Nationalsozialistische Unrechtsurteile und Homosexuellenverfolgung
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Kommentar Am Mittwoch, den 16. Juni 2004, haben die parlamentarischen Vertreter von SPD und Grünen in den befassten Ausschüssen des Deutschen Bundestages den FDP-Gesetzentwurf zur Errichtung und Finanzierung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung abgelehnt. Am Freitag, den 18. Juni folgte die rotgrüne Mehrheit im Bundestag diesen Voten und lehnte die Finanzierung einer Stiftung mit 15 Millionen Euro mehrheitlich ab. Mit Hilfe der Magnus-Hirschfeld-Stiftung sollten die nationalsozialistischen Verbrechen gegen homosexuelle Frauen und Männer wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Mit dieser Form der kollektiven Wiedergutmachung wollte der Gesetzgeber die lange Zeit durch politische Vorgaben verhinderten individuellen Ausgleichzahlungen an Überlebende des NS-Terrors kompensieren und zudem in Rechnung stellen, dass die damalige nationalsozialistische Verfolgung die Homosexuellen in ihrer Gesamtheit traf, was die zahlreichen Beschlagnahmungen von Zeitschriften und Büchern, Enteignungen etwa des renommierten Institutes für Sexualwissenschaft und Verbotsverfügungen gegen damalige Emanzipationsgruppen belegen. Da es zu Rückerstattungen von Vermögenswerten bis heute nicht gekommen ist, schien die Blockade des rotgrünen Gesetzentwurfes durch den schwarz-gelben Bundesrat im Herbst 2002 als Skandal. Und nun lässt die gleiche Bundesregierung einen erneuten Anlauf der Opposition scheitern. Wie ist es zu diesem zunächst schwer nachvollziehbaren Entschluss gekommen? In einer Pressemitteilung vom 18. Juni 2004 begründen die Grünen ihre Entscheidung. Sie lassen die Parlamentarische Geschäftsführerin Irmingard Schewe-Gerigk sprechen, die vor dem Bundestag die grüne Haltung wie folgt erklärt: "Im Hinblick auf eine mögliche Stiftung, die einen kollektiven Ausgleich für die Gruppe der Homosexuellen darstellen soll, muss daher zuerst das Verhältnis geklärt werden zur individuellen Entschädigung heute noch lebender NS-Opfer." Da dies bis heute noch nicht geklärt sei und im Bundeshaushalt keine Mittel für beide Projekte vorhanden seien - für die Verbesserung der individuellen Entschädigung und einen kollektiven Ausgleich - habe man sich zu einer Ablehnung des Vorhabens entschlossen. Die Erforschung der Geschichte der Homosexuellen bleibe aber weiterhin eine wichtige Aufgabe, die man zu einem späteren Zeitpunkt befördern werde. Diese Begründung ist weder logisch schlüssig noch inhaltlich nachvollziehbar. Wenn ein Verhältnis ungeklärt ist, dann kann bis zur seiner Klärung eigentlich keine Entscheidung gefällt werden. Hier wird jedoch zugleich für eine Verbesserung der individuellen Entschädigungsleistungen plädiert. Also scheint dieses Verhältnis zumindest für die Grünen geklärt. Eine Verbesserung der individuellen Entschädigungsleistungen hat nach ihrem Verständnis Vorrang vor einer kollektiven Entschädigung. Dieses Argument könnte dann überzeugen, wenn es noch eine beträchtliche Anzahl von ehemaligen Opfern gäbe, die in den Genuss dieser Verbesserungen kommen könnte. Doch dies ist offensichtlich nicht der Fall. Bereits 1996 hat ein wissenschaftlicher Kongress "Wider das Vergessen" in der Stadthalle von Saarbrücken festgestellt, dass homosexuelle Frauen bislang überhaupt nicht in den Genuss von Entschädigungsleistungen gekommen sind. Homosexuelle Männer wurden bis dato zu nur einem verschwindend geringen Anteil bedacht. Angesichts der traurigen Tatsache, dass die meisten der überlebenden homosexuellen NS-Opfer bereits verstorben sind, ist in Zukunft mit keiner nennenswerten Anzahl von Antragstellerinnen bzw. Antragstellern zu rechnen. Die individuelle Entschädigung muss daher als gescheitert gelten [Siehe meinen Beitrag "Zum Scheitern der Politik individueller Wiedergutmachung"]. Die Bilanz bei den anderen Opfergruppen (Zwangssterilisierte, Euthanasie-Geschädigte, Sinti und Roma, Militärjustizopfer), dürfte zwar etwas besser, jedoch auch nicht wesentlich anders aussehen. Es kann sich demnach heute nur noch um wenige Überlebende handeln, deren Verbesserungen bei den Leistungsbezügen, wie sie eine grüne Presseerklärung vom 25. August 2004 ankündigt, zwar zu begrüßen sind, die von ihrem Umfang her aber keine nennenswerte haushaltspolitische Größe mehr darstellen können. Derartige Leistungsverbesserungen gegen eine überfällige kollektive Ausgleichzahlung ins Feld zu führen, kann demnach nur noch als vorgeschoben und verlogen zugleich bewertet werden. Nach allem drängt sich ein ganz anderer Verdacht auf. Er betrifft nahezu alle politisch Beteiligten von der SPD über die Grünen auf der einen Seite bis zur FDP und der Union auf der anderen. Denn auffälligerweise entzündete sich 2002 wie 2004 der politische Streit bei der Magnus-Hirschfeld-Stiftung an einer Petitesse, nämlich an der Besetzung des Kuratoriums, konkret an der Frage, ob der Lesben- und Schwulenverband dort mit einer oder mit zwei Stimmen vertreten sein soll. Diese Frage hat die beiden politischen Lager wiederholt gegeneinander aufgebracht und mir scheint, dass hier der wahre Grund für das Scheitern der Magnus-Hirschfeld-Stiftung liegt: wahrlich kein Glanzstück schwulenpolitischer Strategie und Taktik in beiden politischen Lagern. Magnus-Hirschfeld-Stiftung an CDU-Mehrheit im Bundesrat vorerst gescheitertAus für Homoforschung - CDU-Länder wollen Magnus-Hirschfeld-Stiftung nicht. Dafür darf das Schwarzfahren bald 40 Euro kostenBERLIN dpa vom 27.09.2002 Der Bundesrat will die Magnus-Hirschfeld-Stiftung kippen: Die Länderkammer legte gestern gegen das Gesetz, mit dem die Erforschung homosexuellen Lebens in Deutschland institutionalisiert werden soll, Einspruch ein. Nun liegt das Gesetz beim Vermittlungsausschuss - in dem Rot-Grün allerdings mit der Wahl die knappe Mehrheit verloren hat. Jetzt gibt es dort eine Pattsituation. Mit der Stiftung will die rot-grüne Koalition an den Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935) erinnern. Das Stiftungsvermögen von 15 Millionen Euro soll vom Bund aufgebracht werden. Der Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) sagte, die geplante Arbeit genüge nicht wissenschaftlichen Ansprüchen, und das Kuratorium sei unausgewogen zusammengesetzt. Dank des rotgrünen Regierungswechsels und der Aktivitäten des Bundestagsabgeordneten Volker Beck hat der Bundestag das Verfahren im Jahr 2000 erneut aufgerollt und die verfolgten Homosexuellen endlich gesetzlich rehabilitiert. Homophobes Hamburg will Stiftung im Bundesrat stoppen Der konservative Senat will NS-Opfer-Entschädigung für Homosexuelle stoppen. Stiftung sei falsches Instrument HAMBURG (dpa): Der CDU-geführte Hamburger Senat will die geplanten NS-Opfer-Entschädigungen für Homosexuelle stoppen, werfen die Grünen/GAL diesem vor. Er kündigte am 24.09.2002 an, den Vermittlungsausschuss anzurufen, um den Gesetzentwurf zur Einrichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung grundsätzlich zu überarbeiten. Das Gesetz, das am Freitag im Bundesrat behandelt wird, geht auf eine Erklärung des Bundestages zur Rehabilitierung von in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen zurück. Der Senat erklärte, inhaltlich sei das Gesetz förderungswürdig, "aber die Form der Stiftung ist zu ein zu schwerfälliges und kostenintensives Instrument". Damit blockiere Hamburg die überfällige Einrichtung der Stiftung, erklärte der GAL-Politiker Farid Müller. Ein Vermittlungsverfahren könne gar nicht mehr stattfinden. Das Gesetz solle in Wirklichkeit durch diesen Verfahrenstrick gestoppt werden, so Müller. Bangen um die Magnus-Hirschfeld-Stiftung: Jörg Hutter beim Gedenktag für die Opfer von Krieg und Faschismus im September 2002 Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Anwesende, ich möchte mich zunächst für die Einladung des Landesverbandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) bedanken, hier sprechen zu dürfen. Es ist wohl ein Fortschritt, dass heute Vertreter der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung ganz selbstverständlich an diesem Gedenktag sprechen können. Einen ebenso radikalen Wandel haben wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Bewertung des nationalsozialistischen Terrors gegen Homosexuelle von Seiten der Bundesregierung beobachten können. Deshalb möchte ich noch einmal zurückgehen in das Jahr 1996. Damals fand in Saarbrücken unter dem Titel "Wider das Vergessen“ der bislang größte wissenschaftliche Kongress über die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung statt. In einem Vortrag über die offizielle Entschädigungspraxis der damaligen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl habe ich die Politik der Wiedergutmachung gegenüber homosexuellen Opfern für gescheitert erklärt, und zwar aus den folgenden drei Gründen: 1. Homosexuelle Frauen sind überhaupt nicht in den Genuss von Entschädigungsleistungen gekommen, homosexuelle Männer wurden zu nur einem verschwindend geringen Anteil bedacht. Angesichts der Tatsache, dass die meisten der überlebenden homosexuellen NS-Opfer bereits verstorben sein dürften, ist in Zukunft mit keiner nennenswerten Anzahl von Antragstellerinnen bzw. Antragstellern mehr zu rechnen. 2. Bei der Zerschlagung der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung sind auch die Vermögenswerte der betroffenen Einrichtungen konfisziert worden, für die die Regierung Helmut Kohl´s sowie alle anderen Vorgängerregierungen eine Rückerstattung verweigert haben. 3. Alle vorherigen Bundesregierungen einschließlich der Regierung Kohl haben sich geweigert, den kollektiven Verfolgungscharakter des nationalsozialistischen Terrors gegen Homosexuellen anzuerkennen und diese Hauptfeindgruppe der Nazis dementsprechend kollektiv zu rehabilitieren, etwa in Form einer Stiftung, welche die nötige Erinnerungsarbeit leisten kann. Sechs Jahre später sind auf diesem Gebiet Fortschritte erzielt, die die versammelten Experten damals kaum für möglich gehalten haben. Die positiven Veränderungen gehen dabei ganz eindeutig auf das Konto der neuen Regierungsmehrheit in Berlin. Ich möchte die Entwicklung kurz rekapitulieren: In einem ersten Schritt hat sich der Bundestag am 7. Dezember letzen Jahres bei den homosexuellen Opfern der nationalsozialistischen Willkürherrschaft entschuldigt, eine gesetzliche Rehabilitation in Aussicht gestellt und ihnen durch diesen symbolischen Akt ihre Ehre wiedergegeben. Einbezogen waren hier auch ausdrücklich die Verurteilungen in der Bundesrepublik nach dem 1935 verschärften und nach 1945 nicht revidierten § 175 StGB. In dem Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen heißt es auszugsweise wie folgt: „Der Deutsche Bundestag bekräftigt seine Überzeugung, dass die Ehre der homosexuellen Opfer des NS-Regimes wiederhergestellt werden muss. Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die nationalsozialistische Fassung des §175 im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert in Kraft blieb. Er entschuldigt sich für die bis 1969 andauernde strafrechtliche Verfolgung homosexueller Bürger, die durch die drohende Strafverfolgung in ihrer Menschenwürde, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten und in ihrer Lebensqualität empfindlich beeinträchtigt wurden. Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt Initiativen, die die historische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und des späteren Umgangs mit ihren Opfern zum Gegenstand haben. (...)“ Die Bundesregierung wird schließlich gebeten, eine gesetzliche Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile vorzubereiten und einen Bericht über die Rückerstattung und Entschädigung für die im Nationalsozialismus erfolgte Enteignung und Zerschlagung der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung vorzulegen und Vorschläge zu entwickeln, wie Lücken bei der Entschädigung, Rückerstattung und beim Rentenschadensausgleich für homosexuelle NS-Opfer geschlossen werden können. Die rotgrüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder ist nicht untätig geblieben. Sie hat in einem weiteren Schritt ein Gesetz zur Aufhebung aller NS-Unrechturteile gegen Homosexuelle (und Deserteure) vorbereitet, welches der Bundestag gegen den Widerstand von CDU und F.D.P. dann am 17. Mai diesen Jahres beschlossen hat. Mit dieser Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes müssen sich Homosexuelle wie Deserteure für ihre rechtliche Rehabilitierung nicht mehr einer unwürdigen Einzelfallprüfung bei der Staatsanwaltschaft unterziehen. Die gegen sie in der NS-Zeit ergangenen Unrechtsurteile sind hiermit umfassend aufgehoben worden. Am 27. Juni 2002 hat die rotgrüne Bundestagstagsmehrheit schließlich die Einrichtung einer sogenannten Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg gebracht, mit der die notwendige Erinnerungsarbeit sowie Menschenrechtsarbeit geleistet werden soll. Im Bundeshaushalt sind hierfür 32 Mill. Euro reserviert. Mit dem Namen der Stiftung soll an den Berliner Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868 bis 1935) erinnert werden, der neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch als Streiter für die Rechte der Homosexuellen hervorgetreten ist. Sicherlich sind mit diesen Schritten noch nicht alle Forderungen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung erfüllt. So bleibt die Frage nach Entschädigung der Justizopfer von 1945 bis 1969 weiterhin eine offene Forderung. Die bislang errungenen Erfolge sind jedoch beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings kann das ambitionierte Projekt der Magnus-Hirschfeld-Stiftung durchaus noch scheitern. Falls der Bundesrat das Gesetz anhält und nach dem 22. September eine schwarzgelbe Koalition regiert, dürfte mit einer Umsetzung des Gesetzes nicht mehr zu rechnen sein. Hier ist auch der Bremer Senat gefordert. Bremen darf die Umsetzung dieses Gesetzes im Bundesrat nicht blockieren. Erfüllt mit dieser Sorge und der großen Hoffnung auf weitere Fortschritte bedanke ich mich bei den anwesenden Personen für das Zuhören. Jörg Hutter
Rotgrüne Mehrheit: Bundestag
gibt homosexuellen NS-Opfern ihre Ehre wieder
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