Kritik an Martin Walser

Du bist hier: Willkommen DreieckPolitik DreieckDeutscher Faschismus DreieckKritik an Martin Walser
 

Eine Schande ganz besonderer Art:
Der Umgang mit dem Erbe der Nationalsozialisten am Beispiel der NS-Unrechtsurteile gegen schwule Männer
(Einleitende Worte eines Vortrages, den ich im Bremer Schnürschuh-Theater anlässlich der Anne-Frank-Tage gehalten habe)
Jörg Hutter

Inhalt

Eine Schande ganz besonderer Art


Wird rechtsradikale Gewalt zu einem Gewissensthema hochstilisiert?


Verkörpert die Monumentalisierung 'unserer' Schande einen negativen Nationalismus?


Die Deutschen als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft?


Unzureichende Entschädigungspraxis als Schande besonderer Art


Anmerkung


Themenverwandte Links


 


Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Bundhandels, Rede von Martin Walser, vollständig abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 1998, Nr. 236, Seite 15.

"In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlen. (...) Daß der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bißchen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten." Martin Walser in seiner Sonntagsrede vom Herbst 1998.

Copyright © Dr. Jörg Hutter. Alle Rechte vorbehalten. Der hier veröffentlichte Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken heruntergeladen oder ausgedruckt werden. Für andere Absichten - insbesondere das Einstellen auf Webseiten - ist das Einverständnis des Verfassers einzuholen.

Eine Schande ganz besonderer Art

In einer von mir derzeit an der Universität Bremen durchgeführten Lehrveranstaltung über die Feindgruppen der Nationalsozialisten und Neuen Rechten haben wir uns - also die Studierenden und ich - die Frage gestellt, ob rechtsextreme Ideologiebestände auch in der Mitte unserer Gesellschaft propagiert werden. Aus aktuellem Anlass habe ich die Rede Martin Walsers vom 11. Oktober des Jahres 98 gewählt01, die dieser als neuer Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat. Ignatz Bubis, der (damalige) Vorsitzende des Zentralrates der Juden, scheint derzeit die einzige Persönlichkeit zu sein, welche Walsers Äußerungen scharf kritisiert. In seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 1998 nannte Bubis Walser einen "geistigen Brandstifter". Ich will weniger die mögliche Wirkung von Walsers Worten beurteilen, sondern eher ihren Gehalt beurteilen. Ich bin der Auffassung, dass seine Sonntagsrede in weiten Passagen eine Gesinnung offenbart, die gemeinhin der Neuen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet wird. Deshalb will ich an dieser Stelle etwas ausführlicher auf seine Äußerungen eingehen.

Wird rechtsradikale Gewalt zu einem Gewissensthema hochstilisiert?

Walser widmet sich einem Thema, das seiner Meinung nach zu einem "Gewissensthema" unserer Epoche "gemacht worden" sei: die moralische Empörung über die seit der Wiedervereinigung enorm angestiegenen rechtsextremen Gewaltverbrechen - und ich füge hier hinzu, weil es bei Walser nicht vorkommt - mit weit mehr als fünfzig Toten und einer ungleich größeren Anzahl von schwer Verletzten auf Seiten der Minderheiten und Schwachen in dieser Gesellschaft. Walser unterstellt nun unter Anspielung auf den ‘Dichter’ Günther Grass und den ‘Denker’ Jürgen Habermas, die angesichts der sympathisierenden Reaktionen aus der Mitte der Bevölkerung und der politischen Elite der deutschen Gesellschaft eine "politisch-moralische Verwahrlosung" attestieren, sie - also Grass und Habermas - täten dies einzig und alleine nur deshalb, um uns "allen weh zu tun, weil sie finden, wir haben das verdient." Auffälligerweise konzipiert Walser "alle" in eingeschränkter Form: gemeint sind bei ihm nämlich nur "alle Deutschen", vielleicht auch noch "alle Österreicher". 

Verkörpert die Monumentalisierung 'unserer' Schande einen negativen Nationalismus?

Deutlicher lässt sich der Blick nicht mehr verstellen. Verletzt werden nicht die erschlagenen, erstochenen, aus fahrenden Zügen geworfenen und verbrannten Menschen, sondern die Deutschen und Deutschland als Nation. Dies gelte nach Walser erst recht, wenn "uns Deutschen" in den Medien "jeden Tag" die nationalsozialistische Vergangenheit, die "Grauenhaftigkeit von Auschwitz" vorgehalten wird. Diese "Dauerpräsentation unserer Schande" werde nun nicht um des Gedenken willens, um des Nichtvergessendürfens organisiert. Vielmehr werde "unsere Schande (...) zu gegenwärtigen Zwecken instrumentalisiert". Auschwitz - so behauptet Walser weiter - eigne sich nicht dafür, als "Drohroutine", als "Einschüchterungsmittel" oder als "Moralkeule" instrumentalisiert zu werden. Dies gelte besonders für die InitiatorInnen des zentralen Holocaustdenkmales in Berlin. Ihre guten Absichten diskreditiert Walser nicht nur als banal - er spricht hier von der "Banalität des Guten" -, sondern hält ihnen sogar vor, die Hauptstadt mit einem "fußballfeldgroßen Albtraum" zubetonieren zu wollen. Das Berliner Holocaust-Denkmal stehe als Sinnbild für die "Monumentalisierung der Schande", die laut Walser einen "negativen Nationalismus" verkörpere.

Also ist es eine Schande für Deutschland, weil an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Mitte unserer Gesellschaft erinnert werden soll? Bedeutet es eine Schande für Deutschland, weil den Opfern von damals wenigstens heute der nötige Respekt gezollt werden soll? Oder ist es eine Schande für Deutschland, weil die Menschen unter dem Motto ‘Erinnern für die Zukunft’ dafür sensibilisiert werden sollen, rechtsextreme Ideologie und Weltanschauung bereits im Ansatz zu erkennen? Ist es tatsächlich eine Schande für Deutschland, wenn sich seine Intellektuellen öffentlich darüber empören, dass immer weitere Bevölkerungskreise offen mit den rechtsextremen Gewalttätern sympathisieren? 

Die Deutschen als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft?

Erstaunen ruft bei mir hervor, dass Walser sich meint auf alle Deutschen berufen zu können. Kann er das, weil auch er die Deutschen als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft begreift? Fraglich bleibt, ob er zu dieser Gemeinschaft auch die Deutschen griechischer und türkischer Herkunft zählt. Ebenso unerfindlich bleibt, warum die Verbrechen der Nationalsozialisten "unsere Schande" symbolisieren, also auch die der Nachgeborenen oder die der damals im Widerstand ihr Leben riskierenden Menschen. Mir scheint, dass das Denken in homogenen Kollektiven - wie es für eine rechtsextreme Weltanschauung so bezeichnend ist - nicht nur die Multikulturalität unserer heutigen Gesellschaft leugnet, sondern auch ganz bewusst davon ablenkt, dass sich aktives Handeln oder Unterlassen einzelnen Menschen zuordnen lässt. Als Schande empfinde ich hingegen den dieser Walserschen "Sonntagsrede" beipflichtende Politikerapplaus, der zeigt, wie en vogue rechtes Gedankengut heute wieder mitten in der Gesellschaft ist.

Unzureichende Entschädigungspraxis als Schande 
besonderer Art

Und wenn wir schon einmal dabei sind, die Dinge beim Namen zu nennen, die wahrlich eine Schande darstellen, dann zählen dazu die folgenden Ereignisse: Die Entscheidung der abgewählten christlichliberalen Bundesregierung, nationalsozialistische Unrechtsurteile in Ausnahmefällen aufzuheben, zählt sicherlich zu einer Schande ganz besonderer Art. Und zu einer ebenso großen Schande bundesdeutscher Politik zählt sicherlich die bis zum jüngsten Regierungswechsel andauernde Weigerung von CDU und F.D.P., die Opfer nationalsozialistischer Willkürherrschaft umfassend entschädigen und rehabilitieren zu wollen. Selbst 53 Jahre nach Kriegsende scheint eine Entschädigungsregelung, die alle Opfergruppen angemessen würdigt - von den Zwangsarbeitern bis hin zu den absichtlich ausgeschlossenen Verfolgtengruppen -, noch immer nicht in Sicht. Mit Sicherheit ist es keine Schande der Deutschen, sondern eine der christlichliberalen Bundespolitiker, die entsprechende Entschädigungsregelungen nur dann in Kraft gesetzt haben, wenn sie aus dem Ausland dazu gezwungen wurden. Nach dieser Logik handelt auch der derzeitige Bremer Senat, der sich unter Berufung auf den Alliierten Kontrollrat weigert, die nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen gegen die Homosexuellen auch als in Wesen und Umfang typisches nationalsozialistisches Unrecht anzuerkennen.

Angesichts der zahlreichen rechtsextremen Überfälle und der unbefriedigenden Entschädigungspraxis dokumentiert die Rede Walsers in meinen Augen  rechtsextremes Gedankengut. Walser plädiert zudem - wie es Ignatz Bubis meint - für eine Kultur des Wegschauens und Wegdenkens. Und beides zusammen genommen ist tatsächlich beschämend: aber nicht für die Deutschen, sondern für Herrn Walser höchstpersönlich.
... 

Anmerkung                           Zurück zum Beginn

01 Der Artikel ist in vollständiger Länge abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Montag, den 12. Oktober 1998, Seite 15. Zurück zur Fußnote

Themenverwandte Links

Alles zum Thema Punk (Auswahl): Bilder von Punk-Bands/Konzerten, Termine, Punk und schwul
(Everything about Punk [A selection]: Pics of punk bands/punk concerts, dates of punk concerts, punk and gay)

bullet

[Fotos von Konzerten, Punk Bands] (Pics of punk-bands/ punk-concerts)

bullet

[Termine von Punk-Konzerten] (Punk concerts dates)

bullet

[Persönlicher Standpunkt: Punk und schwul] (My personal viewpoint: punk and gay)

bullet

[Gaypunk-Fotos von mir und meinem Freund Tino] (Gay-punk photos of me and my friend Tino)

Eigene Publikationen zum Nationalsozialismus (Some publications on National Socialism)

bullet

[Fotos von Rosa-Winkel-Häftlingen] (Fotos of Pink-Triangle prisoners)

bullet

Übersicht: Die unterschiedlichen Winkel in den Konzentrationslagern
(Overview: The different triangles in the concentration camps)

bullet

Zur Aufhebung der Unrechtsurteile  
(On the annulment of Unlawful Verdicts & Judgements)

bullet

Zum Scheitern der Politik individueller Wiedergutmachung  
(On the politics of individual compensation)

bullet

Konzentrationslager Auschwitz: Die Häftlinge mit dem rosa Winkel  
(Auschwitz Concentration Camp: The prisoners with the Pink-Triangle)

bullet

Die Rolle der Polizei bei der Schwulen- und Lesbenverfolgung im Nationalsozialismus  
(The role of the police in National Socialism’s persecution of gays and lesbians)

bullet

Zensur im Netz?  
(Censorship in the Net?)

Eigene Publikationen zur heutigen Innenpolitik (My own publications on domestic politics today)

bullet

Wem gehört die Straße:  Kritische Anmerkungen zur neuen Ordnungs- und Sicherheitspolitik   
(Who owns the streets: Critical comments concerning today’s Law and Order politics)

bullet

Am eigenen Leib: Rechtswidrige Massenverhaftungen in Bremen  
(Personal experience: Unlawful mass arrests in Bremen)

Eigene Lehrveranstaltung (My own teaching events)

bullet

Feindgruppen der Nationalsozialisten  
(Groups persecuted by the National Socialists)

bullet

Schwule Nazis  
(Gay Nazis)

Die Neue Rechte in Deutschland (The New Right in Germany)

bullet

Meine Kritik an Martin Walsers Sonntagsrede  
(My critisism of Martin Walser)

Erste Forschungsergebnisse zum Schicksal von Karl Gorath alias Karl B.
(First Research results to the destiny of Karl Gorath alias Karl B.)

bullet

Interview mit Karl B. (taz bremen vom 27./28.6.98) 
(Interview with Karl B. taz Bremen of 27/28.6.98)

bullet

Karl Gorath's Odyssee durch die deutschen Konzentrationslager - mit Übersichtskarte der deutschen Konzentrationslager
(Karl Gorath's Odyssey through the German concentration camps - with general map of the German concentration camps)

bullet

Gutachten des Zuchthauses Celle über die Notwendigkeit einer Einweisung in ein Konzentrationslager
Report of the convict prison Celle on the necessity of a deportation into a concentration camp

bullet

Verfügung der Bremer Kriminalpolizei:
Polizeiliche Vorbeugungshaft bzw. Deportation in ein Konzentrationslager

(Order of for The Bremen detective force:
Police preventive custody equivalently to deportation into a concentration camp)

bullet

Gutachten des Zuchthauses Bremen-Oslebshausen: Kontinuität der Verfolgung nach 1945

(Report of the convict prison Bremen-Oslebshausen: Continuity of the persecution after 1945)

Reise nach Auschwitz (Journey to Auschwitz)

bullet

Dokumentation einer Reise (Broschüre)

Rat und Tat Zentrum (Advice & Action Centre)

bullet

Bremischer Härtefond
(Hardship Fund Bremen)

bullet

Rechtsradikale Bombendrohungen  
(Radical right bomb threats)

Heutiges Gedenken (Rememberance today)

bullet

27. Januar: Tag des Gedenkens  
(27th January. Rememberance Day)

Konflikt um 
das Kosovo (Kosovo conflict)

bullet

DIE ZEIT im Gespräch mit dem Soziologen Zygmunt Bauman  
(„DIE ZEIT“ - German newspaper - in conversation with the sociologist Zygmunt Bauman)

bullet

Mein Plädoyer für den Einsatz von Bodentruppen  
(My plea for the use of ground troops)

bullet

Reaktionen vom Punk-Label CHANGE MUSIK   
(Punk label CHANGE MUSIC’s reactions)

bullet

Online Diskussionsforum zum Thema  
(On-line forum on the subject)

  Zurück zum Beginn

Home Startseite www.joerg-hutter.de