Eine Schande ganz besonderer Art:
Copyright © Dr. Jörg Hutter. Alle Rechte vorbehalten. Der hier veröffentlichte Artikel ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zu privaten Zwecken heruntergeladen oder ausgedruckt werden. Für andere Absichten - insbesondere das Einstellen auf Webseiten - ist das Einverständnis des Verfassers einzuholen. Eine Schande ganz besonderer ArtIn einer von mir derzeit an der Universität Bremen durchgeführten Lehrveranstaltung über die Feindgruppen der Nationalsozialisten und Neuen Rechten haben wir uns - also die Studierenden und ich - die Frage gestellt, ob rechtsextreme Ideologiebestände auch in der Mitte unserer Gesellschaft propagiert werden. Aus aktuellem Anlass habe ich die Rede Martin Walsers vom 11. Oktober des Jahres 98 gewählt01, die dieser als neuer Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat. Ignatz Bubis, der (damalige) Vorsitzende des Zentralrates der Juden, scheint derzeit die einzige Persönlichkeit zu sein, welche Walsers Äußerungen scharf kritisiert. In seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 1998 nannte Bubis Walser einen "geistigen Brandstifter". Ich will weniger die mögliche Wirkung von Walsers Worten beurteilen, sondern eher ihren Gehalt beurteilen. Ich bin der Auffassung, dass seine Sonntagsrede in weiten Passagen eine Gesinnung offenbart, die gemeinhin der Neuen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet wird. Deshalb will ich an dieser Stelle etwas ausführlicher auf seine Äußerungen eingehen. Wird rechtsradikale Gewalt zu einem Gewissensthema hochstilisiert?Walser widmet sich einem Thema, das seiner Meinung nach zu einem "Gewissensthema" unserer Epoche "gemacht worden" sei: die moralische Empörung über die seit der Wiedervereinigung enorm angestiegenen rechtsextremen Gewaltverbrechen - und ich füge hier hinzu, weil es bei Walser nicht vorkommt - mit weit mehr als fünfzig Toten und einer ungleich größeren Anzahl von schwer Verletzten auf Seiten der Minderheiten und Schwachen in dieser Gesellschaft. Walser unterstellt nun unter Anspielung auf den ‘Dichter’ Günther Grass und den ‘Denker’ Jürgen Habermas, die angesichts der sympathisierenden Reaktionen aus der Mitte der Bevölkerung und der politischen Elite der deutschen Gesellschaft eine "politisch-moralische Verwahrlosung" attestieren, sie - also Grass und Habermas - täten dies einzig und alleine nur deshalb, um uns "allen weh zu tun, weil sie finden, wir haben das verdient." Auffälligerweise konzipiert Walser "alle" in eingeschränkter Form: gemeint sind bei ihm nämlich nur "alle Deutschen", vielleicht auch noch "alle Österreicher". Verkörpert die Monumentalisierung 'unserer' Schande einen negativen Nationalismus?Deutlicher lässt sich der Blick nicht mehr verstellen. Verletzt werden nicht die erschlagenen, erstochenen, aus fahrenden Zügen geworfenen und verbrannten Menschen, sondern die Deutschen und Deutschland als Nation. Dies gelte nach Walser erst recht, wenn "uns Deutschen" in den Medien "jeden Tag" die nationalsozialistische Vergangenheit, die "Grauenhaftigkeit von Auschwitz" vorgehalten wird. Diese "Dauerpräsentation unserer Schande" werde nun nicht um des Gedenken willens, um des Nichtvergessendürfens organisiert. Vielmehr werde "unsere Schande (...) zu gegenwärtigen Zwecken instrumentalisiert". Auschwitz - so behauptet Walser weiter - eigne sich nicht dafür, als "Drohroutine", als "Einschüchterungsmittel" oder als "Moralkeule" instrumentalisiert zu werden. Dies gelte besonders für die InitiatorInnen des zentralen Holocaustdenkmales in Berlin. Ihre guten Absichten diskreditiert Walser nicht nur als banal - er spricht hier von der "Banalität des Guten" -, sondern hält ihnen sogar vor, die Hauptstadt mit einem "fußballfeldgroßen Albtraum" zubetonieren zu wollen. Das Berliner Holocaust-Denkmal stehe als Sinnbild für die "Monumentalisierung der Schande", die laut Walser einen "negativen Nationalismus" verkörpere. Also ist es eine Schande für Deutschland, weil an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Mitte unserer Gesellschaft erinnert werden soll? Bedeutet es eine Schande für Deutschland, weil den Opfern von damals wenigstens heute der nötige Respekt gezollt werden soll? Oder ist es eine Schande für Deutschland, weil die Menschen unter dem Motto ‘Erinnern für die Zukunft’ dafür sensibilisiert werden sollen, rechtsextreme Ideologie und Weltanschauung bereits im Ansatz zu erkennen? Ist es tatsächlich eine Schande für Deutschland, wenn sich seine Intellektuellen öffentlich darüber empören, dass immer weitere Bevölkerungskreise offen mit den rechtsextremen Gewalttätern sympathisieren? Die Deutschen als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft?Erstaunen ruft bei mir hervor, dass Walser sich meint auf alle Deutschen berufen zu können. Kann er das, weil auch er die Deutschen als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft begreift? Fraglich bleibt, ob er zu dieser Gemeinschaft auch die Deutschen griechischer und türkischer Herkunft zählt. Ebenso unerfindlich bleibt, warum die Verbrechen der Nationalsozialisten "unsere Schande" symbolisieren, also auch die der Nachgeborenen oder die der damals im Widerstand ihr Leben riskierenden Menschen. Mir scheint, dass das Denken in homogenen Kollektiven - wie es für eine rechtsextreme Weltanschauung so bezeichnend ist - nicht nur die Multikulturalität unserer heutigen Gesellschaft leugnet, sondern auch ganz bewusst davon ablenkt, dass sich aktives Handeln oder Unterlassen einzelnen Menschen zuordnen lässt. Als Schande empfinde ich hingegen den dieser Walserschen "Sonntagsrede" beipflichtende Politikerapplaus, der zeigt, wie en vogue rechtes Gedankengut heute wieder mitten in der Gesellschaft ist. Unzureichende
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