Der Holocaust ist nicht einmalig

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Der Holocaust ist nicht einmalig - 
Dr. Helga Hirsch im Gespräch mit dem polnischen Soziologen Prof. Zygmunt Bauman,  
in: DIE ZEIT Nr. 17, 23. April 1993

Inhalt

Der Holocaust steckt im Wesen der modernen Zivilisation


Die bürokratische Ordnung stellt das abstrakte System über die Individuen


Besondere Eigenschaften fördern oder hemmen die moderne bürokratische Ordnung


Die Juden als Stachel im Körper der modernen Zivilisation


Deutsche Einheit als Bedrohung einer vollkommen Welt


Die moderne Zivilisation kann immer im Totalitarismus enden


In Europa kann die Separation und Vertreibung von Menschen erneut im Holocaust enden


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Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, 1964 Dekan der Soziologischen Fakultät der Universität Warschau, 1967 Austritt aus der KP, 1968 Emigration aus Polen, Lehrtätigkeit in Israel und England

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Gespräch mit dem polnischen Soziologen 
Zygmunt Bauman
(Zwischenüberschriften von Jörg Hutter)
Der Holocaust ist nicht einmalig

DIE ZEIT: Während des so genannten Historikerstreits wurde die Einzigartigkeit des Holocaust bestritten. Kommen Sie, obwohl Sie zu den Verfolgten zählen, zu demselben Ergebnis?

Der Holocaust steckt im Wesen der modernen Zivilisation

Zygmunt Bauman: Der Holocaust ist für mich das Laboratorium der modernen Zivilisation, in dem sich bestimmte Eigenschaften in Reinkultur zeigen, die im normalen Leben nur unscharf auftreten. Man erledigt die Frage der Verantwortung und Wiedergutmachung für die Holocaust-Opfer und spricht alle anderen Menschen auf der Welt frei, indem man das Problem auf ein Territorium (das historische Gebiet Deutschlands), auf die deutsche Kulturgeschichte und die deutschen Urheber des Verbrechens konzentriert. Mit dieser Exotisierung des Holocaust gehen alle anderen Sektoren der Zivilisation gleichsam gesäubert aus dem Prozess hervor. Das halte ich für gefährlich. Die Möglichkeit des Holocaust steckt im Wesen der modernen Zivilisation.

DIE ZEIT: Ernst Noltes Relativierung des Holocaust wurde als eine Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten empfunden. Sie behaupten nun umgekehrt, dass derjenige den Holocaust herunterspielt, der ihn zu einem unwiederholbaren historischen Ereignis macht.

Die bürokratische Ordnung stellt das abstrakte System über die Individuen

Bauman: Es ist gefährlich zu sagen, der Holocaust sei ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte und also ein abgeschlossenes Kapitel. Ich wiederhole die These von Hannah Arendt, dass der Antisemitismus allein die Auswahl der Opfer erklärt, aber nicht den Charakter des Verbrechens. Dieser wird vielmehr bestimmt durch die Ambition der Moderne, eine vollkommene Welt zu schaffen. Was dem Nationalsozialismus, dem Stalinismus oder auch der ethnischen Säuberung im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam ist, ist das abstrakte System, das Vorrang hat vor den Interessen und Wünschen von Individuen. Deswegen werden Leben und Wohlstand von Gruppen, ja ganzen Nationen zur Realisierung jener "idealen" Welt geopfert. Das ist ein moderner Gedanke. Der Antisemitismus hat eine zweitausendjährige Geschichte. Aber hätte man im 18. Jahrhundert einem polnischen Bauern gesagt, die Juden könnten von dieser Welt verschwinden - so wäre er bestürzt gewesen. Denn die Juden waren ein Element der von Gott geschaffenen Ordnung, mit der zu spielen den Menschen untersagt war. Deswegen glaube ich nicht, dass der traditionelle Antisemitismus zu Maßnahmen wie im Holocaust hätte führen können. Dazu konnte es nur kommen auf Grund einer bürokratischen Ordnung der modernen Welt, die die moralische Beurteilung vollständig vom menschlichen Handeln trennt, auf Grund der Wahnvorstellung, die Welt vollständiger zu machen, als sie ist, und auf Grund einer rücksichtslosen Macht, die reich ausgestattet ist mit Mitteln zur Gewaltanwendung.

DIE ZEIT: Spielen die Besonderheiten der deutschen Geschichte und Mentalität für Sie keine Rolle?

Besondere Eigenschaften fördern oder hemmen die moderne bürokratische Ordnung

Bauman: Ich glaube, es gab in Deutschland eine unglaubliche Leistungsfähigkeit der preußischen Bürokratie. In Italien gab es auch den Befehl, die Juden einzusperren. Aber die italienische Bürokratie funktionierte nicht. In diesem Sinn kann man von der deutschen Ausnahme reden. Aber man muss unterscheiden zwischen den allgemeinen Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft funktioniert, und den besonderen Eigenschaften, die sie fördern oder bremsen. Den deutschen Charakter würde ich nur zu den besonderen Eigenschaften zählen.

DIE ZEIT: Sie entdämonisieren damit die Täterrolle der Deutschen. Nehmen Sie damit den Juden nicht auch die ewige Opferrolle?

Die Juden als Stachel im Körper der modernen Zivilisation

Bauman: Der Holocaust folgte erst aus der modernen Geschichte der Juden - als sie das Getto verlassen hatten. In einem Europa, das sich seit der Französischen Revolution nach Kategorien der nationalen Selbstbestimmung gestaltete, bildeten die Juden eine Nation, die keine ist. Sie waren das einzige Element, das überall und nirgends dazugehörte, überall und nirgends zuhause war. Das machte sie zum Brennpunkt aller modernen Unruhen: Sie stellten das Unklare dar, die Ambivalenz. Gefährlich waren dabei nicht so sehr die orthodoxen Juden, die sich deutlich abhoben, als vielmehr die Juden, die schwer zu fassen waren: die das Getto verlassen hatten, angaben, Deutsche zu sein, und es in Wirklichkeit nicht waren. Als Heine und Börne den Beruf des Journalisten schufen, um von den traditionellen jüdischen Berufen wegzukommen, und als sie ihre Bewegung "Junges Deutschland" nannten - da wurden sie von ihren Kollegen sofort als "Junges Palestina" bezeichnet, und der Journalistenberuf galt als jüdische Profession. Die Juden bildeten den Stachel im Körper der modernen Zivilisation, die es zur Klarheit, Durchsichtigkeit drängt.

DIE ZEIT: Allerdings erleben wir gerade eine Verlagerung des Feindbildes.

Deutsche Einheit als Bedrohung einer vollkommen Welt

Bauman: Das eigentliche Problem ist die Unruhe, das Gefühl der Bedrohung. Die Unruhe der Menschen nach dem Fall der Mauer ist die natürliche Folge ihrer Unsicherheit. Es gibt Angst, tief verankerte Angst, die nach einem Ausweg sucht. Wie immer in diesen Situationen macht sie sich am Fremden fest: dass jemand eine andere Hautfarbe hat. Cottbus und andere Städte waren ganz einfach Orte ritueller Handlungen, ritueller Entladungen von Angst. Es fängt mit den Zigeunern an und geht mit den Türken weiter. Nach fünfzig Jahren steht Europa wieder vor dem Problem der Selbstdefinition. Wir kehren zum Ausgangspunkt zurück. Und Prozesse, die typisch waren für den Modernisierungsprozess, gewinnen wieder an Wichtigkeit. Weiter haben wir die Bürokratie, den modernen Staat und die Möglichkeiten, entsprechend der Dimension des Holocaust zu handeln.

DIE ZEIT: Ihre Analyse weckt eine gewisse Hysterie, so als gäbe es nicht den Umschlag von Quantität in Qualität?

Die moderne Zivilisation kann immer im Totalitarismus enden

Bauman: Niemals ist klar, wann der Umschlag von Quantität in Qualität erfolgt. Die Grenzen sind fließend. Bertrand Russel sagte einmal, die Schwierigkeit mit dem Totalitarismus bestehe darin, dass man nicht genau wisse, zu welchem Zeitpunkt man beginnen müsse aufzuschreien. Raul Hilberg, der Historiker des Holocaust, beschrieb die logische Abfolge bestimmter Handlungen: Es beginnt mit der Definition des Fremden. Hat man es definiert, kann man es separieren. Hat man es separiert, kann man es deportieren. Hat man erst deportiert, kann es mit der physischen Vernichtung enden.

DIE ZEIT: Es kann, aber es muss nicht.

In Europa kann die Separation und Vertreibung von Menschen erneut im Holocaust enden

Bauman: Die demokratische Mehrheit in Europa erklärt sich mit der Definition, Separation und Deportation einverstanden. Übrig bleibt nur das letzte Glied. Als Eichmann nach Wien delegiert wurde, erhielt er von Hitler noch einen Orden dafür, dass er die Emigration der österreichischen Juden beschleunigt hatte. Das heißt: Anfänglich ging es damals mit den Juden um dasselbe wie mit den Zigeunern heute: deportieren, wegschicken. Leider nahm die Wehrmacht anschließend ganz Europa ein, und es gab keinen Platz mehr, wo man sie hätte hinschicken können. Erst dann, 1941, tauchte die Idee der Endlösung auf. 1941 dachte niemand daran, dass Auschwitz und Treblinka entstehen könnten. Also sagen wir 1993 nicht, dass es unmöglich wäre, eine Gruppe, die sich nicht deportieren lassen will, irgendwo im Wald zu erschießen. Wissen Sie, welchen Plan Stalin unmittelbar vor seinem Tod hatte? Er wollte die Juden nach Sibirien aussiedeln. Wie sollte das geschehen? Erst sollten antijüdische Unruhen in einigen Städten organisiert werden, dann sollte eine jüdische Delegation zu Stalin kommen und um Verteidigung bitten. Und Stalin sagt: Selbstverständlich, meine Lieben, werde ich euch schützen - und schickt sie nach Sibirien. Ich kann mir durchaus eine westeuropäische Regierung vorstellen, die im Namen der armen Marokkaner beschließt, sie in einem speziell gesicherten Teil von Marseille unter Aufsicht zu stellen: Rundherum stehen Soldaten. Ist das so unmöglich? Würde Le Pen Bürgermeister von Marseille - er würde das machen.

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