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Gespräch mit dem polnischen
Soziologen
Zygmunt Bauman (Zwischenüberschriften von Jörg Hutter)
Der Holocaust ist nicht einmalig
DIE
ZEIT: Während des so genannten
Historikerstreits wurde die Einzigartigkeit des Holocaust bestritten. Kommen
Sie, obwohl Sie zu den Verfolgten zählen, zu demselben Ergebnis?
Der
Holocaust steckt im Wesen der modernen Zivilisation
Zygmunt
Bauman: Der Holocaust ist für mich das
Laboratorium der modernen Zivilisation, in dem sich bestimmte Eigenschaften in
Reinkultur zeigen, die im normalen Leben nur unscharf auftreten. Man erledigt
die Frage der Verantwortung und Wiedergutmachung für die Holocaust-Opfer und
spricht alle anderen Menschen auf der Welt frei, indem man das Problem auf ein
Territorium (das historische Gebiet Deutschlands), auf die deutsche
Kulturgeschichte und die deutschen Urheber des Verbrechens konzentriert. Mit
dieser Exotisierung des Holocaust gehen alle anderen Sektoren der Zivilisation
gleichsam gesäubert aus dem Prozess hervor. Das halte ich für gefährlich. Die
Möglichkeit des Holocaust steckt im Wesen der modernen Zivilisation.
DIE
ZEIT: Ernst Noltes Relativierung des
Holocaust wurde als eine Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten
empfunden. Sie behaupten nun umgekehrt, dass derjenige den Holocaust
herunterspielt, der ihn zu einem unwiederholbaren historischen Ereignis macht.
Die bürokratische
Ordnung stellt das abstrakte System über die Individuen
Bauman:
Es ist gefährlich zu sagen, der Holocaust sei ein
einzigartiges Ereignis in der Geschichte und also ein abgeschlossenes Kapitel.
Ich wiederhole die These von Hannah Arendt, dass der Antisemitismus allein die
Auswahl der Opfer erklärt, aber nicht den Charakter des Verbrechens. Dieser
wird vielmehr bestimmt durch die Ambition der Moderne, eine vollkommene Welt zu
schaffen. Was dem Nationalsozialismus, dem Stalinismus oder auch der ethnischen
Säuberung im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam ist, ist das abstrakte System,
das Vorrang hat vor den Interessen und Wünschen von Individuen. Deswegen werden
Leben und Wohlstand von Gruppen, ja ganzen Nationen zur Realisierung jener
"idealen" Welt geopfert. Das ist ein moderner Gedanke. Der
Antisemitismus hat eine zweitausendjährige Geschichte. Aber hätte man im 18.
Jahrhundert einem polnischen Bauern gesagt, die Juden könnten von dieser Welt
verschwinden - so wäre er bestürzt gewesen. Denn die Juden waren ein Element
der von Gott geschaffenen Ordnung, mit der zu spielen den Menschen untersagt
war. Deswegen glaube ich nicht, dass der traditionelle Antisemitismus zu Maßnahmen
wie im Holocaust hätte führen können. Dazu konnte es nur kommen auf Grund
einer bürokratischen Ordnung der modernen Welt, die die moralische Beurteilung
vollständig vom menschlichen Handeln trennt, auf Grund der Wahnvorstellung, die
Welt vollständiger zu machen, als sie ist, und auf Grund einer rücksichtslosen
Macht, die reich ausgestattet ist mit Mitteln zur Gewaltanwendung.
DIE
ZEIT: Spielen die Besonderheiten der
deutschen Geschichte und Mentalität für Sie keine Rolle?
Besondere
Eigenschaften fördern oder hemmen die moderne bürokratische Ordnung
Bauman:
Ich glaube, es gab in Deutschland eine unglaubliche
Leistungsfähigkeit der preußischen Bürokratie. In Italien gab es auch den
Befehl, die Juden einzusperren. Aber die italienische Bürokratie funktionierte
nicht. In diesem Sinn kann man von der deutschen Ausnahme reden. Aber man muss
unterscheiden zwischen den allgemeinen Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft
funktioniert, und den besonderen Eigenschaften, die sie fördern oder bremsen.
Den deutschen Charakter würde ich nur zu den besonderen Eigenschaften zählen.
DIE
ZEIT: Sie entdämonisieren damit die Täterrolle
der Deutschen. Nehmen Sie damit den Juden nicht auch die ewige Opferrolle?
Die Juden
als Stachel im Körper der modernen Zivilisation
Bauman:
Der Holocaust folgte erst aus der modernen
Geschichte der Juden - als sie das Getto verlassen hatten. In einem Europa, das
sich seit der Französischen Revolution nach Kategorien der nationalen
Selbstbestimmung gestaltete, bildeten die Juden eine Nation, die keine ist. Sie
waren das einzige Element, das überall und nirgends dazugehörte, überall und
nirgends zuhause war. Das machte sie zum Brennpunkt aller modernen Unruhen: Sie
stellten das Unklare dar, die Ambivalenz. Gefährlich waren dabei nicht so sehr
die orthodoxen Juden, die sich deutlich abhoben, als vielmehr die Juden, die
schwer zu fassen waren: die das Getto verlassen hatten, angaben, Deutsche zu
sein, und es in Wirklichkeit nicht waren. Als Heine und Börne den Beruf des
Journalisten schufen, um von den traditionellen jüdischen Berufen wegzukommen,
und als sie ihre Bewegung "Junges Deutschland" nannten - da wurden sie
von ihren Kollegen sofort als "Junges Palestina" bezeichnet, und der
Journalistenberuf galt als jüdische Profession. Die Juden bildeten den Stachel
im Körper der modernen Zivilisation, die es zur Klarheit, Durchsichtigkeit drängt.
DIE
ZEIT: Allerdings erleben wir gerade eine
Verlagerung des Feindbildes.
Deutsche
Einheit als Bedrohung einer vollkommen Welt
Bauman:
Das eigentliche Problem ist die Unruhe,
das Gefühl der Bedrohung. Die Unruhe der Menschen nach dem Fall der Mauer ist
die natürliche Folge ihrer Unsicherheit. Es gibt Angst, tief verankerte Angst,
die nach einem Ausweg sucht. Wie immer in diesen Situationen macht sie sich am
Fremden fest: dass jemand eine andere Hautfarbe hat. Cottbus und andere Städte
waren ganz einfach Orte ritueller Handlungen, ritueller Entladungen von Angst.
Es fängt mit den Zigeunern an und geht mit den Türken weiter. Nach fünfzig
Jahren steht Europa wieder vor dem Problem der Selbstdefinition. Wir kehren zum
Ausgangspunkt zurück. Und Prozesse, die typisch waren für den
Modernisierungsprozess, gewinnen wieder an Wichtigkeit. Weiter haben wir die Bürokratie,
den modernen Staat und die Möglichkeiten, entsprechend der Dimension des
Holocaust zu handeln.
DIE
ZEIT: Ihre Analyse weckt eine gewisse
Hysterie, so als gäbe es nicht den Umschlag von Quantität in Qualität?
Die moderne
Zivilisation kann immer im Totalitarismus enden
Bauman:
Niemals ist klar, wann der Umschlag von
Quantität in Qualität erfolgt. Die Grenzen sind fließend. Bertrand Russel
sagte einmal, die Schwierigkeit mit dem Totalitarismus bestehe darin, dass man
nicht genau wisse, zu welchem Zeitpunkt man beginnen müsse aufzuschreien. Raul
Hilberg, der Historiker des Holocaust, beschrieb die logische Abfolge bestimmter
Handlungen: Es beginnt mit der Definition des Fremden. Hat man es definiert,
kann man es separieren. Hat man es separiert, kann man es deportieren. Hat man
erst deportiert, kann es mit der physischen Vernichtung enden.
DIE
ZEIT: Es kann, aber es muss nicht.
In Europa kann
die Separation und Vertreibung von Menschen erneut im Holocaust enden
Bauman:
Die demokratische Mehrheit in Europa erklärt
sich mit der Definition, Separation und Deportation einverstanden. Übrig bleibt
nur das letzte Glied. Als Eichmann nach Wien delegiert wurde, erhielt er von
Hitler noch einen Orden dafür, dass er die Emigration der österreichischen
Juden beschleunigt hatte. Das heißt: Anfänglich ging es damals mit den Juden
um dasselbe wie mit den Zigeunern heute: deportieren, wegschicken. Leider nahm
die Wehrmacht anschließend ganz Europa ein, und es gab keinen Platz mehr, wo
man sie hätte hinschicken können. Erst dann, 1941, tauchte die Idee der Endlösung
auf. 1941 dachte niemand daran, dass Auschwitz und Treblinka entstehen könnten.
Also sagen wir 1993 nicht, dass es unmöglich wäre, eine Gruppe, die sich nicht
deportieren lassen will, irgendwo im Wald zu erschießen. Wissen Sie, welchen
Plan Stalin unmittelbar vor seinem Tod hatte? Er wollte die Juden nach Sibirien
aussiedeln. Wie sollte das geschehen? Erst sollten antijüdische Unruhen in
einigen Städten organisiert werden, dann sollte eine jüdische Delegation zu
Stalin kommen und um Verteidigung bitten. Und Stalin sagt: Selbstverständlich,
meine Lieben, werde ich euch schützen - und schickt sie nach Sibirien. Ich kann
mir durchaus eine westeuropäische Regierung vorstellen, die im Namen der armen
Marokkaner beschließt, sie in einem speziell gesicherten Teil von Marseille
unter Aufsicht zu stellen: Rundherum stehen Soldaten. Ist das so unmöglich? Würde
Le Pen Bürgermeister von Marseille - er würde das machen.
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ganz andere Meinung? Dann auf zur Online-Diskussion.
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