Schwule Spuren in Bremen

Du bist hier: Willkommen DreieckSchwul DreieckRat & Tat-Zentrum DreieckSchwule Spuren in Bremen
 

Schwule Spuren in Bremen
Ulli Steinbacher
in: Bremer Blatt, 9. Jahrgang, April 1984, S. 28-30.

Inhalt

Vorbemerkung von Jörg Hutter


Der traurige Rum Bremens im 19. Jahrhundert


Der 'gute' Ruf Bremens zu Beginn des 20. Jahrhunderts


1918 - 1933: Der Freiheit näher


1933 - 1945: Das gesunde Volksempfinden tobt sich aus


1950er Jahre: Kein Ende der Verfolgung


Zur Situation in den 1980er Jahren


Themenverwandte Links


 

Titelfoto des Artikels "Schwule Spuren" von Ulli Steinbacher im Bremer Blatt, April 1984, S. 28

Schwule Spuren in Bremen
Vorbemerkung von Jörg Hutter

Der politische Erfolg, den wir in Bremen mit der geplanten Platzeinweihung nach Karl Heinrich Ulrichs verbuchen können, hat mich dazu beflügelt, den Artikel „Schwule Spuren“ von Ulli Steinbacher auf meiner Webseite zu veröffentlichen. Denn diese historische Rekonstruktion schwulen Lebens in Bremen zählt bislang zu der einzigen Ihrer Art. An diese Fleißarbeit aus dem Jahr 1984 ist bis heute leider nicht angeknüpft worden, obwohl dem Verfasser seinerzeit schon klar war, das es sich bei seinem Artikel nur um eine erste grobe Annäherung handelt. Oftmals müssen Vermutungen die Lücken zwischen den einzelnen Aktenstücken schließen.

Erschwerend kommt leider hinzu, das der Autor seine Zitate nicht belegt. Sicher ist nur, dass es sich bei den Quellen um Aktenfunde aus dem Bremer Staatsarchiv handelt. Auf Grund des frühen Aids-Todes von Ulli Steinbacher (1987) müssen seine Dokumente zudem als verschollen gelten. Um das bereits Entdeckte erneut zusammen zu tragen, wäre eine wiederholte und sicher mühsame Recherche im Staatsarchiv von Nöten. Des weiteren ist es nach wie vor sinnvoll, die noch lebenden Zeitzeugen der 1950er und 1960er Jahre zu befragen, damit dieses Stück homosexueller Identitätsgeschichte nicht gänzlich verloren geht. Leider fehlt es nach wie vor an Geld und Kapazität, um dieses Kapitel schwuler, wohl recht erst lesbischer Lokalgeschichte rekonstruieren zu können.

Trotz aller Mängel füllt der Artikel jedoch eine Lücke. Denn er fokussiert den Blick auf Bremen und versucht somit, das hier in den 1980er Jahren Erreichte in einen Entwicklungsprozess einzuordnen und somit besser verständlich zu machen. Dieser Aspekt behält auch heute seine Relevanz, zumal die meisten Leser von damals die genannten Einzelheiten wieder vergessen haben dürften und die Nachgewachsenen von heute bislang keine Chance hatten, die Geschichte des schwulen Bremens nachzuvollziehen. Insofern denke ich, dass es ganz Ulli Steinbachers Willen entspricht, wenn ich seinen damaligen Artikel (mit einigen erklärenden Fußnoten versehen) an dieser Stelle erneut publiziere.

Eine Vorbemerkung zum Inhalt ist an dieser Stelle jedoch noch angebracht. Denn die anfängliche Behauptung des Autors, dass es in anderen europäischen Ländern durch Aufklärung und Revolution zu einem deutlich geringeren Verfolgungsdruck gegenüber Homosexuellen gekommen sei, hält einer Überprüfung nicht stand. So haben in Bayern und Württemberg trotz Liberalisierung der Strafgesetze Polizeigesetze unzüchtige Handlungen generell mit Strafe belegt, im Deutschen Reich hat das Preußische Obertribunal 1876 den Straftatbestand durch die Erfindung der beischlafähnlichen Handlung auf Verhaltensweisen ausgedehnt, bei denen das Glied am Körper eines anderen Mannes gereizt wird, das Reichsgericht bewertete dann ab den 1890er Jahren bereits das Berühren des Gliedes am Körper eines anderen Mannes als strafwürdig (Hutter, Jörg: Die gesellschaftliche Kontrolle des homosexuellen Begehrens, Frankfurt/Main 1992, S. 42 ff.). Die Österreichische Justiz hat homosexuelle Frauen wie Männer sogar besonders intensiv und lang anhaltend strafrechtlich verfolgt. Das Österreichische Strafgesetz von 1852  belegte homosexuellen Handlungen sogar bis 1971 mit Strafe. Ab 1971 war immer noch strafbar mann-männliche Sexualität mit unter 18jährigen (§ 209 ÖStGB), Verbot mann-männlicher Prostitution (§ 210 ÖStGB), Werbeverbot (§ 220 ÖStGB) und ein Vereinsverbot (§ 221 ÖStGB). Paragraf 129 I b des ÖStGB von 1852 pönalisierte Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts, also auch weib-weibliche Handlungen und § 130 drohte mit ein bis fünf Jahren schwerem Kerker. Bei der Strafverfolgung selbst war Österreich insbesondere von 1920 bis 1938 Spitzenreiter. Sie übertraf in diesem Zeitraum gemessen an der Bevölkerung die aller anderen Länder. Derzeit gelten sogar noch immer 558 Männer und Frauen in Österreich nach § 129 I b als vorbestraft [Aktuelle Strafverfolgung in Österreich]. Insofern muss Steinbachers Bewertung der bremischen Strafverfolgung zu Beginn seiner Ausführungen relativiert werden. Bremen folgt leider nur einem gesamteuropäischen Trend. (Dank an dieser Stelle an Franz Gstättner für seine hilfreichen Hinweise zur Strafverfolgung in Österreich).

Der traurige Rum Bremens im 19. Jahrhundert, die erste Emanzipationsgruppe und die vermeintliche Morgenröte Karl Heinrich Ulrichs

Wer meint, das 19. Jahrhundert sei für Homosexuelle eine durchgängig düstere Verfolgungszeit, irrt - im Gegenteil: Aufklärung und französische Revolution schaffen stellenweise ein recht mildes Klima. In einigen Ländern, wie Frankreich, Bayern, Württemberg und Österreich ist die Liebe unter Männern straffrei, in Preußen und Sachsen wird nur noch die „eigentliche Päderastie“ bestraft (d.h. die Handlungen, die auf ein körperliches Eindringen gerichtet sind!)

Zur selben Zeit, als Österreich die strafrechtliche Verfolgung einstellt (1867), macht sich die Bremische Justiz mit der „Bremer Praxis“ einen Namen. Zwischen 1837 und 1871 wird zahlreichen ‚Urningen’ (der Begriff Homosexualität wird erst um 1890 gebräuchlich) der Prozess gemacht. Im September 1866 spitzt sich die Verfolgung dramatisch zu, als der unverheiratete 40jährige Kaufmann Mühlenberg angeklagt, „mit drei Soldaten Umgang gepflogen zu haben“, sich im Bremer Gefängnis erhängt, weil er die „Schande“ nicht erträgt. Vor diesem Hintergrund bildet sich ein Kreis von Urningen, der ähnliches in Zukunft verhindern will. Sie nennen sich „Die Freundschaftsloge“.

Diese ‚Emanzipationsgruppe’ hat sicherlich Kontakt zu dem hannoverschen Amtassessor Carl Heinrich Ulrichs (ein Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung im 19. Jahrhundert). Ein Jahr später, 1867, kommt es zu einem weiteren Skandal in Bremen wegen der „mannmännlichen Liebe“, der Prozess gegen den hiesigen Theaterdirektor Friedrich Carl Feldtmann. Das Aufsehen erregende an diesem Prozess ist nicht nur die gesellschaftliche Stellung, die Feldtmann als Direktor des Stadttheaters hat, sondern vor allem auch seine offensive Haltung und Verteidigung, nachdem sein Verhältnis mit jungen Männern durch einen Erpressungsversuch und Denunziation der Polizei bekannt wird. Aus der Untersuchungshaft schreibt er dem „hohen Senat“, dass er in seinen Handlungen nichts Unehrenhaftes entdecken kann. Vor Gericht verteidigt er sich:

„So gut Sie, meine Richter, das Recht haben, das Weib zu lieben, so gut habe ich das Recht, den Mann zu lieben. Beide haben wir das Recht, von Gott. Weigern Sie dem die Gerechtigkeit, der in meiner Brust den Trieb der Liebe legte, wie in die Ihre. Mich zu verdammen haben Sie die Macht. Das Recht bestreite ich Ihnen.“

Solch mutiges Auftreten stellt sicherlich im Zusammenhang der Unterstützung der Freundschaftsloge und Ulrichs, der vor Prozeßbeginn eine Streit- und Aufklärungsschrift verfasst, in der er gegen die „mittelalterlichen Ammenmärchen“ zu Felde zieht. Diese verteilt man in Bremen. An Ulrichs wird dazu geschrieben:

„Ihre Druckschrift hat im Bremer Publikum einen wahren Aufruhr hervorgebracht. Jedermann spricht davon. Es geht das Gerücht, von Würzburg seien 4000 Stuck einer Schutzschrift hierher gesandt. Jedermann sucht voll den wirklich gesandten eines zu erhaschen. Es wird verliehen und wieder, wieder verliehen. ... Richter, Geschworene und Staatsanwalt scheinen von der Sache denn doch einen anderen Begriff bekommen zu haben. Ja, sogar das Publikum.“

Im Dezember 1867 wird Feldtmann zu einem Jahr Gefängnis verurteilt; das Zuchthaus, sonst für solche Vergehen üblich, bleibt ihm erspart. Um Feldtmann verurteilen zu können, bemüht das Gericht nicht nur die ‚Peinliche Halsgerichtsordnung’ von Karl V., 1532, sondern scheut sich auch nicht, die Novelle des römischen Kaisers Justinian aus dem Jahre 534 heranzuziehen, die Liebe unter Männern deshalb unter Strafe stellt, „weil durch sie für den Staat Hungersnot, Pestilenz und Erdbeben (sic!) entstehe“. Dennoch sieht Ulrichs in dem Skandal „Leuchtturmslicht“, da selbst der Staatsanwalt offen bedauert, gehalten zu sein, eine Verurteilung Feldtmanns zu fordern. Doch wie sehr irrt sich Ulrichs, als er 1861 (!) ausruft:

„Es ist nun genug gesagt und geschrieben. Wir wollen nicht länger verfolgt sein. Wir fordern unser Recht! Er wird, er muß das letzte der Opfer sein, die dem Wahn von der Naturwidrigkeit unserer Liebe dargebracht werden.“

Der Reichsgründung 1871 folgt im selben Jahr das Reichsstrafgesetz. In ihm wird mit dem § 175 RStGB ein neues Ammenmärchen aufgekocht: das von der Verführung zur Homosexualität. Mehrfach wissenschaftlich ad absurdum geführt, bestimmt es bis heute die Rechtssprechung.

Der 'gute' Ruf Bremens zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Vorgänge in einem "Garconlogis" am Philosophenweg bringen Bremen 1910 reichsweit in Verruf. Ein Kreis von mehreren homosexuellen Männern schafft sich mit einer kleinen Wohnung den Freiraum, sich unbehelligt mit Freunden zu treffen. Dies "Liebesnest" fliegt auf, als ein Professorensohn bei der Polizei auspackt. Er will „unter dem Vorwand, dass ihm wissenschaftliche Bücher gezeigt würden“ in die Wohnung geführt worden sein. Von den Erlebnissen dort wird der junge Mann "berauscht". Ein Schiffsbauingenieur aus Dänemark, der Mieter der Wohnung, und drei weitere Personen werden festgenommen.

„Der Schiffstechniker hat junge Leute an Sonntagen mit Kaffee und Kuchen traktiert. Dabei wurde gesungen und deklamiert. Inwieweit er sich nach § 175 strafbar gemacht hat, muss die Untersuchung noch klarer stellen“ (Bremer Nachrichten).

Diese eher harmlose Geschichte wird im folgenden zum Skandal, als das Bremer Tageblatt in Bildzeitungsmanier die Vorgänge mit der Beteiligung hochgestellter Persönlichkeiten „bis in den Kreis um Eulenburg“ und eines Polizeibeamten spickt; mit Opium sollen die Opfer willenlos gemacht worden sein (Eulenburg, homosexuell, war engster Vertrauter des Kaisers. 1907 Staatsaffäre wegen seiner Veranlagung). Überregionale Zeitungen finden die Kombination Homosexualität, wohlklingende Namen und Rauschgift ebenso reizvoll und schaffen damit die „große Bremer Skandalaffaire“. Dem bürgerlichen Bremen ist dies peinlich. Das Tageblatt wird wegen seiner sensationslüsterneu Berichterstattung von den anderen Zeitungen gegeißelt, allerdings weniger wegen der groben Verunglimpfung von Homosexuellen, sondern weil das Blatt, indem es solche Vorgänge - wahr oder unwahr - ans Licht zerrt, „dadurch Bremens Ruf und Ansehen Fremden gegenüber schwer schädigt.“ „Nestbeschmutzer“ schimpft die Weser Zeitung. In zahlreichen Leserbriefen sorgen sich Bremer Bürger:

„Man erbost sich auswärts über das schmutzige Bremen, wohin ein anständiger Mensch nicht mehr reisen könne und junge Leute allein auf keinen Fall, da sie ja in ihr Unheil hineinliefen und sogar die Polizei verseucht sei. Traurig, tief traurig ist es, daß es eine Presse gibt, die die eigene Stadt so schädigen kann. Ein Kaufmann.“ Eine beachtenswerte Stellung bezieht damals in dieser Affäre das sozialdemokratische Organ, die Bremer Bürgerzeitung, eine Position, hinter der die Mehrheit der SPD heute zurückfällt (vgl. Kießling).1)

„Auch Abirrungen dieser Art, Absteigequartiere und geheime Vergewaltigungen erklären sich zum Teil aus der erzwungenen Heimlichkeit, mit der die Unglücklichen, denen jene abweichende Art geschlechtlicher Veranlagung nun mal zu eigen ist, überhaupt zu Werke gehen müssen, infolge der Existenz jener veralteten Strafbestimmung, die die Veranlagung selbst für strafbar erklärt. ( ... ) Darum muß der Paragraph fallen. Nur der Missbrauch Jugendlicher und die Gewalt muss verboten sein.“

Ganz andere Schlüsse ziehen die rechten Kreise aus der aufgeputschten Geschichte; die Gelegenheit, ihre Vorurteile wieder ins Spiel zu bringen, lassen sie nicht ungenutzt: „Gerade diese letzten Vorgänge dürften auch die Stimmung der Gebildeten Deutschlands, die eine Zeitlang der Aufhebung des § 175 günstig gestimmt waren, zu ungunsten der Homosexuellen einwirken. (...) Wenn die perversen Lüste der Homosexuellen sich am jungen Deutschland austoben wollen, werden die noch lange warten müssen, bis sie auch das gebildete Deutschland auf ihrer Seite haben“ (Die Weltstadt 1910).

1918 - 1933: Der Freiheit näher

Mit dem Sturz der Monarchie fallen für viele auch moralischen Schranken des Deutschen Kaiserreiches. In diesen Jahren gibt es so etwas wie eine sexuelle Revolution, vor allem befreien sich Frauen aus den gesellschaftlichen Zwängen. Die Homosexuellen glauben sich mit der Errichtung der Republik und dem Erstarken fortschrittlicher Kräfte der Abschaffung des § 175 RStGB ein Stück näher. Tatsächlich beschließt der Strafrechtsausschuss des Deutschen Reichstages 1929 die ersatzlose Streichung. Zur gesetzlichen Umsetzung kommt es unter den Regierungen der Weimarer Republik nicht mehr. Obwohl sich an der rechtlichen Situation nichts geändert hat, werden die Homosexuellen auch in Bremen mutiger. Was vor dem Kriege nicht denkbar war, ist nun möglich. 1920 findet im ‚Hansa Haus’ in der damaligen Haupteinkaufsstraße, der Langenstraße, ein homosexuelles ‚Kostümfest’ mit zahlreichen Bühnenauftritten verschiedenster Kleinkünstler statt, zu dem jedermann Zutritt hatte. 1921 schmettert auf dem Freimarkt ein Drehorgelspieler das „Lila Lied“, das zu jener Zeit der Schlager in homosexuellen Kreisen wird. „Wir sind anders als die anderen, wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist. Die anderen, sie wissen aber nicht, wie das Gefühl ist, wir sind ja doch anderer Welten Kind: bald ist, haben wir das gleiche Recht erstritten; wir leiden nicht mehr, sondern sind gelitten.“

Zur gleichen Zeit erscheint in der überregionalen homosexuellen Zeitschrift „Die Freundschaft“ ein Aufruf zur Gründung einer Vereinigung der „Bremer Freunde“. Die Vorstellungen des Initiators orientieren sich an der Wandervogelbewegung. Er will hinaus, vor die Tore Bremens, Ausflüge in der freien Natur unternehmen. „Wir wollen uns das Leben so angenehm wie möglich machen. nach des Tages Ungemach und Schwierigkeit. Denn allerhand kleines und großes Leid bleibt doch von uns Menschen keinem erspart. Darum tretet an mich heran zwecks Gründung eines Klubs zur Förderung der idealen Freundschaft.“

Seit wann sich in Bremen bestimmte Orte zu Treffpunkten von Homosexuellen herausbilden, wird heute kaum noch zu erfahren sein. „Aktenmäßig gesichert“ ist, dass schon 1914 im „Foyer des Hauptbahnhofes abends mit grober Regelmäßigkeit verschiedene männliche Personen anzutreffen sind, die wir in diese Kategorie (der Homosexualität) hineinreihen dürfen.“ Der zitierte Polizeibericht nennt auch die Strecke vom Hillmanns Hotel (heute Plazaneubau) an der Vase vorbei (Wallanlagen) bis zum alten Theater (im Bombenkrieg zerstört) als einen „beliebten Strich für bewußte Leute“. Bis Mitte der 1970er Jahre erhält sich dieser Treffpunkt. Das Gebiet der Wallanlagen am Berufsschulzentrum ist ebenfalls schon in den 1920er Jahren beliebt.

1928 gründet sich in Bremen eine Ortsgruppe des überregionalen „Bundes für Menschenrechte“, eine Vereinigung, in der sich vornehmlich Homosexuelle zusammenschließen, um für ihre Reche zu kämpfen. In den Räumen des Hotels Germania (Straße An der Weide, zerstört, heute Statistisches Amt) hat die Ortsgruppe ihren festen Treffpunkt. Sonnabend und Sonntag ist Tanz. Auch Vorträge zum Thema Homosexualität werden hier gehalten, u.a. auch von dem Berliner Arzt Magnus Hirschfeld. Ein Homosexueller, der diese Zeit in Bremen erlebte: „Vor 1933 war das für uns ein Eldorado, wir konnten uns austoben.“

1933 - 1945: Das gesunde Volksempfinden tobt sich aus

Zu den fortschrittlichen Errungenschaften der Weimarer Republik, die von den Konservativen stets bekämpft worden sind und nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten „ausradiert“ werden, gehören auch die Erfolge der Homosexuellenbewegung. In der ersten Zeit der „Erneuerung Deutschlands“ beschränkt sich die Verfolgung der Homosexuellen weitgehend auf die Zerschlagung ihrer Organisationen und Vernichtung der Freiräume. Unmittelbar nach dem Machtwechsel löst die Kriminalpolizei in Bremen die Ortsgruppe des Bundes für Menschenrechte auf. „Weiter wurden einige Bremer Lokale, die als Verkehrslokale von Homosexuellen bekannt waren, gesäubert und werden auch heute noch - ebenso wie alle anderen Lokale - ständig daraufhin überwacht, daß sich in ihnen nicht Homosexuelle zusammenfinden“ (Bremer Nachrichten 28.8.36).

Die Homosexuellen werden zunächst ‚nur’ unter Beobachtung gestellt: „Der Polizei bekannte Homosexuelle werden unter eine planmäßige Überwachung gestellt und erhielten bestimmte Auflagen, die ihre weitere unsittliche Betätigung verhindern sollen. Wenn ein Homosexueller gegen diese ihm erteilten Auflagen verstößt, wird er in die sog. polizeiliche Vorbeugehaft genommen.“ Auch hier ist die Bevölkerung zur „Mitarbeit“, sprich Denunziation, aufgefordert.

„Es muß das Streben der Polizei sein, die Homosexuellen wegen ihrer Gefährlichkeit restlos zu erfassen. Hieran kann aber jeder Volksgenosse, dem das Wohl und die sittliche Gesundheit unserer Volkes und besonders unserer Jugend am Herzen liegt, dadurch mitwirken, daß er jeden Fall, bei dem der Verdacht eines Vergehens nach § 175 besteht, der Kriminalpolizei mitteilt. Es ist selbstverständlich, daß vertrauliche Behandlung hierbei auf Wunsch zugesagt wird“.2)

1936 nimmt ein mobiles Sonderkommando seine Tätigkeit auf, um in verschiedenen Städten des Reiches „Säuberungsaktionen gegen Homosexuelle“ durchzuführen. Ende August 1936 ist Bremen dran. „Einem von der Geheimen Staatspolizei Berlin nach Hamburg entsandten Sonderkommando, das mit einem entsprechenden Auftrag seine Tätigkeit nach hier verlegt hat, gelang es bereits nach kurzer Zeit, mehrere hundert Personen, die sich zum Teil seit Jahren homosexuell betätigen, festzunehmen. Die Säuberungsaktion ist noch im Gange. Weitere Verhaftungen stehen bevor. Das umfangreiche Ergebnis dieser Aktion führte zu der Notwendigkeit, daß die Staatsanwaltschaft Hamburg ein Sonderdezernat für diese Fälle einrichtete. Die ersten Aburteilungen erfolgten bereits vor dem Schnellschöffengericht“ Bremer Nachrichten 27.8.1936).

Wahrscheinlich ist ein großer Teil der durch Razzien, bzw. schon vorher in Listen erfassten Homosexuellen in das Lager Neusustrum im Emsland eingeliefert worden. Von den 3 000 bis 4 000 Häftlingen sind 1940 ca. die Hälfte Homosexuelle. Die Moorlager waren als besonders hart und streng bekannt: Genau das richtige, wie man meinte, um den ‚biologischen Fauxpas’ zu korrigieren.3)

Trotz der systematischen Verfolgung und unbeschreiblichen Grausamkeit konnte der Nazi-Terror nicht alle Winkel und Nischen, in denen sich homosexuelles Treiben abspielte, erreichen. Das Hotel Germania als eindeutiges homosexuelles Lokal wird bald geschlossen, aber einige Kneipen und Etablissements, wie der „Laubfrosch“ und das „Astoria“ in der Bremer Innenstadt, bleiben bei gemischtem, überwiegend heterosexuellem Publikum dennoch Treffpunkte für Männer der wieder namenlos gewordenen Liebe. Ein Besuch dort ist erst einmal unverfänglich, aber die Anbändelei schon ein Risiko. Auch auf den ‚Klappen’ ergibt sich trotz alledem noch mancher Kontakt. Einer, der es erlebte: „Es herrschte Massenbetrieb in den Klappen. Es gab vier Stück, da war der gesamte Betrieb. Da stellte man sich hin, wartete, griff an, machte sich dort fertig oder ging nach Hause. Aber zu Hause war das alles sehr schwer. ( ... ) Es ist alles gut gegangen, ich mußte aber immer sehr vorsichtig sein.“4)

1950er Jahre: Kein Ende der Verfolgung

1945: Viele Homosexuelle atmen erleichtert auf. Sie haben den NS-Terror überlebt - doch mehr auch nicht! An dem anzuknüpfen, was vor 1933 erreicht war, ist in der Ära des Bundeskanzlers Adenauer nahezu unmöglich: der Paragraph 175 RStGB wird in seiner NS-Fassung von 1935 in das hundesdeutsche Strafgesetz übernommen, Wiedergutmachung den homosexuellen KZ-Opfern ebenso verweigert wie Zigeunern und Kommunisten. Die Verfolgung der Homosexuellen geht weiter, zwar ohne Konzentrationslager, aber im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit, etwa vergleichbar der Situation im Kaiserreich.

1953 macht eine „Bremer Division“ von sich reden. Dahinter steckt ein Kreis von Homosexuellen, z.T. mit Erfahrungen aus der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus. Sie beginnen 1951 von Bremen aus den Kampf gegen den § 175 und wollen „die Not der deutschen homophil eingestellten Minderheit ein für alle Mal mit aller Entschlossenheit wenden“ (Programm). Für mehrere Jahre wird Bremen Sitz zweier bundesweiten Verbindungen: des „Weltbundes für Menschenrechte“ und der „Internationalen Freundschaftsloge“ (IFLO). Wie in den Namen anklingt, sieht man sich in der Tradition vergangener Bewegungen (Bund für Menschenrechte und die Bremer Freundschaftsloge von 1866).

Die beiden Vereinigungen liegen in ein und denselben Händen5), doch man verfolgt mit ihnen unterschiedliche Aufgaben. Der „Weltbund für Menschenrechte“ tritt politisch auf und setzt sich allgemein für Minderheiten ein, jedoch insbesondere für die homophile. Seine Forderungen: Strafrechtsreform und Rehabilitierung der homosexuellen Opfer. Den Weg dorthin wollen die Homosexuellen jener Organisation beschreiten über Aufklärung der öffentlichen Meinung und Förderung der wissenschaftlichen Arbeit, die Homosexualität als gleichwertig anerkennt. Der Bund wendet sich an Parteien, Fraktionen und einzelne Abgeordnete des Bundestages. Ihnen wird der damals über die Schweiz bezogen und als sensationell gewertete Kinsey-Report zugeleitet. Von der CDU gibt es keinerlei Echo. Von der F.D.P. jedoch kommen sogar einzelne Vertreter in die Räume des Bundes - allerdings ganz inoffiziell und auch nur mit der Zusicherung „hintenrum“ Hilfestellung zu geben.

Die Internationale Freundschaftsloge hingegen soll den „Homophilen“ persönlich zur Seite stehen und ihnen eine ‚Insel’ für Geselligkeit, Unterhaltung und Gedankenaustausch darstellen. Die Freundschaftsloge hat allein in Bremen 150 feste Mitglieder, in anderen Städten existieren weitere Gruppen. Ab Oktober 1951 bewirtschaftet die IFLO in Bremen eigene Räume mit einer Bar, zuerst im Deutschen Haus (Ecke Contrescarpe / Ostertorsteinweg, heute Möbelhaus Elfers)6), ab 1952, erweitert um Büroräumlichkeiten für den Menschenrechtsbund, die erste Etage im Hotel Schleifmühle (besteht heute noch, Außer der Schleifmühle)7). Hier finden zahlreiche Vorträge bzw. Diskussionen statt; die ‚Bälle’ der IFLO werden von über 250 Personen besucht. Dienstags ist ‚Damentag’, d.h. die Lesben bleiben unter sich.

Das Hotel Schleifmühle ist das erste Etablissement nach dem Dritten Reich, das als offen homosexueller Treffpunkt firmiert. Eine schwule Kneipen- und Bar-Szene entwickelt sich in Bremen erst Mitte den 1960er Jahre. Die Behörden reagieren weiterhin homosexuellenfeindlich. Da sich beide Vereine am Rande der Kriminalität bewegen, wird ihre Eintragung ins Vereinsregister abgelehnt. „Die Sittenpolizei war andauernd da“, doch sie konnte „Vergehen nach § 175 StGB“ nicht nachweisen.

Publizistisches Organ beider Bremer Vereine ist „Die Insel“ mit einer Auflage von 16.000 Exemplaren (für die gesamte Bundesrepublik). Diese ersten Emanzipationsbemühungen nach dem Krieg werden von der neu ins Leben gerufene Bonner Bundesprüfstelle für Presseorgane massiv behindert. Die zuvor offen verkauften homosexuellen Publikationsorgane dürfen nicht mehr offen verkauft werden. Damit verlieren die Vereine nicht nur eine wichtige finanzielle Stütze, denn über „Die Insel“ waren sie für außen stehende Homosexuelle überhaupt erst erreichbar.

Diese und viele andere Rückschläge belasten die Arbeit der damaligen Emanzipationsgruppen erheblich. Innen konkurrieren die beiden Aufgabenbereiche Geselligkeit sowie politische Arbeit. Nach zehn Jahren Mühen um eine Entkriminalisierung und ein verändertes Bewusstsein in der Öffentlichkeit geben die Aktiven in Bremen, teils auch aus persönlichen Gründen, auf. Es war jedoch die Bewegungsszene der 1950er und 1960er Jahre, die den Boden bereitete für die später erneut erwachte Schwulen- und Lesbenbewegung, die sich erst nach der Entkriminalisierung unter sozialliberalen Koalition ab 1969 wieder fest etablieren konnte.

Zur Situation in den 1980er Jahren

Zwischen denen , die sich 1971 nach der Aufführung von Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ im Bremer Cinema in der neuen Schwulenbewegung gesammelt haben (Homosexuelle Aktion Bremen) und denen, die in den 1950iger Jahren für fast dieselben Ziele stritten, gibt es keine Verbindung. „Mach dein Schwulsein öffentlich“, haben wir den älteren Homosexuellen in der Aufbruchseuphorie der 1970er Jahre zugerufen und uns gewundert, dass sie uns nicht folgten. Es ist nicht so, dass ich unsere Aufforderung heute für falsch hielte, aber mit ein wenig Empathie und Einfühlung in die Lebenserfahrungen der Altbewegten kann ich sie etwas verstehen: das Interieur ihrer Treffpunkte erscheint dann eher als ein nebensächliches Detail.

Ulli Steinbacher             Zurück zum Inhalt    Zurück zum Beginn

Anmerkungen

1) Diese Bemerkung benennt einen der letzten Homo-Skandale in Deutschland, bei denen die (manchmal auch nur unterstellte ) sexuelle Identität zur Diskreditierung des jeweiligen Gegners benutzt werden konnte. Dies geschah 1903 bei dem Industriellen Friedrich Krupp, 1906 bei dem Politiker und Kaiservertrauten Phillip Graf zu Eulenburg, 1933 bei dem vermeintlichen Reichtagsbrandattentäter Josh Marinus van der Lubbe, 1934 bei dem SA-Führer Ernst Roehm und 1938 beim General der Reichswehr Werner Freiherr v. Fritsch. 1984 traf es den stellvertretenden Oberbefehlshaber der NATO, General Günter Kießling, der in zwei einschlägigen Kölner Kneipen gesehen worden sein soll. Der General wird von dem damaligen Bundesverteidigungsminister der CDU, Manfred Wörner, in den Ruhestand versetzt mit der Begründung, dass er aufgrund seiner vermeintlichen Homosexualität erpressbar sei und damit in seiner exponierten Stellung für die Bundesrepublik Deutschland ein zu großes Sicherheitsrisiko darstelle. Zurück zur Fn. 1

2) Zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung sowie den Fotos von Rosa-Winkel-Häftlingen aus dem Konzentrationslager Auschwitz bitte die hier gekennzeichneten Links benutzen. Zurück zur Fn. 2

3) Nähere Informationen über ein von mir entwickeltes, aber leider nicht von mir durchgeführtes Forschungsvorhaben über die in der Nähe von Bremen gelegenen Moorlager siehe unter den Forschungsaktivitäten der Schwul-lesbischen Studien an der Universität Bremen. Zurück zur Fn. 3

4) Siehe hierzu Lautmann, Rüdiger: "Hauptdevise: bloß nicht anecken" - Das Leben homosexueller Männer unter dem Nationalsozialismus, in: Terror und Hoffnung in Deutschland 1933 - 1945, Beck, Johannes u.a. (Hg.), Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 366-390, hier speziell zu dem angeführten Zitat von H. Hp. der Nachweis auf S. 377. Zurück zur Fn. 4

5) An dieser Stelle darf der Hinweis auf Friedo Rickel nicht fehlen, der die Bremer Homophilenbewegung der 1950er Jahre maßgeblich mitgestaltet hat. Es gilt ohnehin als dringliche Aufgabe, dieses Kapitel Bremischer Schwulengeschichte aufzuarbeiten, da Friedo wie sein Freund Günter Lieder noch leben. In der Tradition der Oral History wären ihre Lebenserfahrungen möglichst bald zu erfassen und zu dokumentieren. Zurück zur Fn. 5

6) Das Möbelhaus Elfers existiert mittlerweile auch nicht mehr. Heute befindet sich an dieser Ecke zum Goetheplatz ein Sonnenstudio. Zurück zur Fn. 6

7) Das Hotel Zur Schleifmühle existiert im Jahre 2001 nicht mehr. Laut Spartacus, dem internationalen Szeneführer, findet sich die letzte Eintragung dieses Lokales in der 19. Ausgabe aus dem Jahr 1990/91 (Spartacus, Guide for Gay Men, Bruno Gmünder Verlag, Berlin 1990, S. 292). Zurück zur Fn. 7

Themenverwandte Links

Weitere 
Seiten zum Thema

bullet

Ein Straßenname für den schwulen Vorkämpfer
Karl-Heinrich Ulrichs

bullet

Von der Sodomie zu Queer-Identitäten
Ein Beitrag zur Geschichte der homosexuellen Identitätsentwicklung

bullet

Deutscher Faschismus

bullet

Das Bremer Rat und Tat Zentrum für Schwule und Lesben

bullet

Schwulenzentrum im Zwielicht?: Ermittlungen gegen den ehemaligen Vorstand Michael Engelmann

bullet

Zu den Wurzeln des Bremer Schwulen- und Lesbenzentrums

bullet

Der Bremische Härtefond für die 'Vergessenen Opfer' des Nationalsozialismus

bullet

Die Aktionen gegen die Klausel 28

bullet

Schwule Spuren in Bremen

bullet

Schwule Links

bullet

Schwule Bücher

bullet

Links zum Faschismus

bullet

Links zu Bürgerrechten

Zurück zum Beginn

Home Startseite www.joerg-hutter.de