Homophobie und Krankheit

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Homophobie und Krankheit: Ein wichtiges Feld zukünftiger Schwulenpolitik,
in: Grumbach, Detlef (Hg.), Was heißt hier schwul?, 
MännerschwarmSkript, Hamburg 1997, S. 150-162.

Inhalt

Die Aids-Krise ist für die Schwulen noch lange nicht vorbei


Die Reaktion des Sohnes: Gegenwehr


Die Reaktion des Sohnes: Flucht


Die Reaktion des Sohnes: Rückzug


Reaktion des Sohnes: Heirat


Themen für die zukünftige Schwulenpolitik


Anmerkungen


Literatur


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Homophobie und Krankheit: Ein wichtiges Feld zukünftiger Schwulenpolitik
Jörg Hutter

Im Bücherprospekt der schwulen Buchläden heißt es zu Werner Hinzpeters "Schöne schwule Welt", kaum jemand widerspreche anlässlich der Diskussion um dieses Buch der dort geäußerten These, die Schwulen von heute benötigten angesichts fehlender Repression weder politische Vertretung noch Lobbyarbeit für Gleichberechtigung. Aus der Vielfalt der von Hinzpeter aufgegriffenen Sachverhalte möchte ich jedoch nur einen Themenbereich herausgreifen und seine diesbezügliche Meinung deutlich kritisieren. Ich will mich auf sein achtseitiges Kapitel über Aids beziehen, welches die Schräglage, unter der der gesamte Band leidet, besonders sichtbar werden lässt.

Die Aids-Krise ist für die Schwulen noch lange nicht vorbei

Hinzpeter vertritt in diesem Abschnitt die provokante These, dass sich die Lebenssituation der Schwulen sogar durch Aids enorm verbessert habe. Die anfängliche Aids-Panik war es, die der damals an allen Orten dahinsiechenden Schwulenbewegung neuen Atem einhauchte.1

Eine solche Wertung ist nur dann möglich, wenn der Betrachter sein Augenmerk einzig auf die negativen Auswirkungen schwulenpolitischer Aktivitäten lenkt. Und hieran scheint der Autor regelrecht Gefallen gefunden zu haben. Politische Arbeit konzipiert er dabei als bloßen Reflex auf gesellschaftliche Repression. Trotz der seit über zwei Jahrzehnten agierenden Schwulenbewegung vermag er positive Effekte des schwulenpolitischen Engagements nicht auszumachen. Die Bewegungsaktivisten degenerieren somit zum Spielball unvorhersehbarer gesellschaftlicher Entwicklungen. Dieses Fazit käme tatsächlich einer Bankrotterklärung sozialpolitischer Emanzipationsarbeit gleich.

Wer sich bemüht, auch die positiven Effekte der jüngeren Schwulenbewegung wahrzunehmen, wird zu einem differenzierteren Urteil kommen. Der Soziologe Dennis Altman hat bereits in den 80er-Jahren herausgearbeitet, dass schwule Organisationen auf die Aids-Krise höchst unterschiedlich reagieren konnten. Ihnen gelang an den Orten die effektivste und wirkungsvollste Antwort auf Aids, wo sie auf eine besonders entwickelte schwule Infrastruktur zurückgreifen konnten. Das öffentliche Bild von der "Schwulenseuche" konnte sich nur dort verfestigen, wo sich die Schwulenbewegung nicht hat entfalten können, so etwa im US-Bundesstaat Florida mit der landesweit höchsten Anzahl von Aids-Fällen und dem größten politischen Desinteresse auf allen politischen Ebenen. In den schwulen Metropolen wie New York, besonders aber San Francisco ließen sich hingegen dauerhafte Unterstützungsprogramme und Versorgungsstrukturen installieren. Derart gut ausgebaute Versorgungs- und Beratungsnetze für Menschen mit HIV und Aids fänden sich in Europa nur in den Niederlanden und Dänemark, beides Länder, in denen sich bereits vor dem Auftreten von Aids eine starke Schwulenbewegung hat etablieren können.2

Anstatt ohne große Sachkompetenz eine "tückische Krankheit"3 zum Hauptakteur einer politischen Entwicklung hochzustilisieren und die schwulenpolitisch engagierten Männer zum bloßen Objekt einer gesellschaftlichen Entwicklung zu degradieren, wäre Hinzpeter gut beraten, auch einmal die Erfolge der Schwulenbewegung beim Namen zu nennen. Nicht durch Aids, sondern trotz Aids haben sich die Lebensbedingungen vieler schwuler Männer weiter verbessern lassen. Wir haben demnach allen Grund, auf die erfolgreiche Abwehr staatlicher Repression à la Gauweiler stolz zu sein. Derjenige, der weiß, mit wie viel Mut und Schweiß sich vielerorts die Versorgungs- und Beratungsstrukturen für Menschen mit HIV und Aids aufbauen ließen, der wird der vorschnellen und leichtfertigen Prognose Hinzpeters widerstehen, nach der wir uns heute über die Fortdauer der staatlichen Finanzierung vieler Aids-Projekte keine ernsthaften Sorgen machen müssten.4 Sich hier auf den Lorbeeren auszuruhen hieße, die Gefahr einer rückläufigen Entwicklung nicht rechtzeitig Ernst zu nehmen. Unsere wechselvolle Geschichte lehrt uns, jederzeit mit Rückschlägen rechnen zu müssen. Zu einem lauten Entwarnungsgeschrei besteht also keinerlei Anlass.

Ein weiterer Aspekt verdient meines Erachtens jedoch besondere Würdigung. An dem hohen Anteil schwuler Männer an den Neuinfektionen - laut jüngsten Quartalsberichten des AIDS-Zentrums im Robert Koch-Institut rangiert der Anteil der schwulen Männer bei den jährlichen Neuinfektionsziffern nach wie vor fast konstant um 65 Prozent5 - manifestiert sich - so meine zentrale These - anhaltende gesellschaftliche Ausgrenzung. Diese Behauptung stützt sich auf die Ergebnisse eines von meinem Kollegen Volker Koch-Burghardt und mir selbst Anfang der 90er-Jahre durchgeführten empirischen Forschungsvorhabens. Bei diesem im Rahmen des Förderschwerpunktes des Bundesforschungsministers für sozialwissenschaftliche Studien zu Aids durchgeführten Projekt sind mit insgesamt 111 Männern themenzentrierte mehrstündige biografische Interviews geführt worden. Der Abschlussbericht wird demnächst als Monografie beim Westdeutschen Verlag publiziert.6

Ohne den Resultaten vorgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle jedoch erwähnt, dass diese Studie eine klassische Frage der Sozialmedizin, nämlich die nach dem Bedingungszusammenhang von Krankheitsentstehung und gesellschaftlichen Verhältnissen aufgreift und auf die Krankheitsverteilung bei Aids anwendet. Gesundheit wird hier konzipiert als ein Prozess, der nur möglich ist, wenn ein Individuum innere und äußere "Anforderungen bewältigt, dabei eine zufrieden stellende Kontinuität des Selbsterlebens (Identität) sichert" und sich persönlich selbstverwirklichen kann.7

Auf Aids angewandt bedeutet diese Annahme, dass die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Ausleben homosexueller Bedürfnisse behindern, mit den Bedingungen des erhöhten HIV-Infektionsrisikos der homosexuellen Population gewissermaßen identisch sind. Aus diesem Grund haben wir angenommen, dass sich die homosexuellen Lebenserfahrungen von den heterosexuellen im Wesentlichen dadurch unterscheiden, dass es sich bei der Homosexualität um eine zum Außenseitertum stempelnde sexuelle Orientierung handelt. Demnach sehen wir zwischen den homophoben Umweltbedingungen, denen sich schwule Männer nicht entziehen können und ihrem hohen Anteil an der HIV-Inzidenz einen funktionalen Zusammenhang. Wir legen den Fokus demnach mehr auf disponierende Faktoren der Krankheitsentstehung8, ohne jedoch die Risikoexposition ganz aus dem Blick zu verlieren. Der Buchtitel "Ausgrenzung macht krank" umschreibt das Auswertungsergebnis. Dabei wird deutlich, dass die ständige Rede von den Schwulen - so auch bei Hinzpeter - verkennt, dass Menschen auf ausgrenzende Situationen unterschiedlich reagieren und sich die Lebensstile der Schwulen deutlich voneinander unterscheiden. Differenzierungen sind demnach nötig. Aussagen, dass es heute allen Schwulen gut oder schlecht gehe, unterstellen eine sozial homogene Gruppe, die angesichts der Vielfalt von Lebenserfahrungen als verfehlt angesehen werden muss.

Der Hinzpeter’schen Sicht ist allerdings insoweit zuzustimmen, dass sich die Lebensbedingungen für Schwule in den letzten Jahren wesentlich verbessert haben. Diese Feststellung darf jedoch nicht dazu verleiten, ein völlig vorurteilsfreies gesellschaftliches Klima zu unterstellen. Auffällig ist, dass Hinzpeter den Lebensbereich, den wir als für schwule Männer besonders prekär und problematisch herausgefiltert haben, aus seiner gesamten Abhandlung völlig ausblendet. Auf unsere Eröffnungsfrage, an welchem sozialen Ort das Homosexuellsein besonders peinlich gewesen sei, hat die Mehrzahl spontan ihre Herkunftsfamilie genannt. Die Befragten selbst rückten damit das Elternhaus als verlängerter Arm gesellschaftlicher Homophobie in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit. "Welche Verwundungen der junge Mann (an diesem Ort) davonträgt, ist bislang noch nie untersucht worden, ja nicht einmal als Forschungsfrage angemeldet".9

Die Eltern- und das zählt zu einem der wesentlichen Resultate unserer Studie - bestimmen maßgeblich, ob die betreffenden Männer das antihomosexuelle Stigma bewältigen können und in der Lage sind, eine homosexuelle Identität zu vollenden. Eine solche Identitätsbildung strahlt später auch auf die sexuellen Interaktionen sowie die intimen Partnerschaften aus. Somit waren zwei analytische Ebenen, die des "Stigma-Managements" und die des "sexuellen Handlungsstiles" voneinander zu unterscheiden. In statistisch hochsignifikanter Weise haben sich hier die Lebenserfahrungen der infizierten von denen der nichtinfizierten Männer unterschieden.

Um nicht erneut in eine medizingläubiger Debatte verwickelt zu werden und auf den Vorbehalt eingehen zu müssen, nach denen wir bei unserer Auswertung die Häufigkeit der Risikokontakte oder die unterschiedliche Virulenz des HIV-Erregers vernachlässigt haben, möchte ich an dieser Stelle andere Erkrankungen in Beziehung zur gesellschaftlichen Homophobie setzen. Selbst dann, wenn wir in unserer Erhebung andere seelische Erkrankungen (Alkoholsucht, Suizidversuche etc.) nicht systematisch erfasst haben, lassen sich diese berichteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ebenfalls auf die schwulenfeindlichen Herkunftsfamilien zurückverfolgen.

Die Reaktion des Sohnes: Gegenwehr

Nicht alle berichteten Eltern-Sohn-Konflikte entwickeln eine Dynamik, bei der der Sohn ein derart starkes Selbstvertrauen hat entwickeln können, sodass er in der Lage ist, den eigenen Eltern Paroli zu bieten. Wie wir noch sehen werden, sind andere schwule Männer noch nicht einmal ansatzweise zur Gegenwehr in der Lage.

Frank G., 21, räumt hingegen das Feld bei den Eltern nicht kampflos.10 Es kostet ihn jedoch erheblich Kraft, die väterlichen Anfeindungen zurückzuweisen. Die Alternative zwischen geordnetem Rückzug und Widerstand entscheidet er zu Gunsten des letzteren. Wie der Volksmund bereits nahe legt, können belastende Lebenssituationen ‘an die Nieren gehen’, ‘auf den Magen schlagen’ oder wie in diesem Beispiel, ‘extrem nervenaufreibend’ sein. Zusammen mit seinem Freund hat Frank G. seine Eltern besucht. Der Vater lässt es sich nicht nehmen, beide übel zu beschimpfen. Frank G. über die Worte des Vaters:

Ja, diese schwule Sau, wieso bringt der eigentlich diesen schwulen Typen mit (2334-2336).

Der Sohn fordert den Vater auf, jede weitere Kritik sofort zu unterlassen. Der Sohn reagiert aggressiv und explodiert, er verliert die Beherrschung. Die aufgeheizte Stimmung ruft auch die Mutter auf den Plan. Sie solidarisiert sich mit ihrem Ehemann und reagiert erbost. Trotz der massiven, persönlich verletzenden Angriffe des Vaters besteht der Sohn darauf, die kommende Nacht mit seinem Freund noch in der elterlichen Wohnung zu verbringen. Diese spannungsgeladene Atmosphäre auszuhalten, hat ihren gesundheitlichen Preis:

Frank G.: Wir sind dann am nächsten Morgen abgefahren und ich habe dann Zuhause hier 'n Nervenzusammenbruch gekriegt, den absoluten Nervenzusammenbruch. Weil das so schlimm war, das war kein Urlaub, das war absoluter Stress. Ich war dann 14 Tage krank (2422-2431).

Die Reaktion des Sohnes: Flucht

Ungleich aussichtsloser schildern diejenigen Männer ihre Lage, die zugleich eine starke kognitive und emotive Distanz zur eigenen Homosexualität bekunden. Diese zwingt sie dazu, ihre homosexuellen Kontakte zu verheimlichen. Das unfreiwillige Doppelleben beschreibt Bertram H., 31, erneut als nervenaufreibend.

Bertram H.: Dieses verdeckte Spiel, dieses Verdecktsein, also zwei Leben führen, das ist echt nervenaufreibend. Das hat dann auch dazu geführt, dass ich mit den Nerven total runter war. Also ich war so weit, dass ich mir jetzt wirklich das Leben nehmen wollte.

I.: Das heißt, du hast so einen Versuch unternommen oder hattest das nur im Kopf?

B.: Das war ein Versuch. Ich hatte einen Versuch mit Tabletten unternommen. Da das dann nicht hingehauen hat, habe ich das doch meinen Eltern erzählt (720-740).

I.: (...) Mhm. Beschreibe doch mal so eine Situation, die dann so nervig war bei deinen Eltern?

B.: Die nervenden Situationen waren immer die Fragen: "Wann bringst du denn mal eine Freundin ins Haus?" Das sind so die nervigen Situationen. (...)

I.: Und dann ist es zu diesem Selbstmordversuch gekommen. Schildere mal, wie dieser Entschluss gekommen ist.

B.: Das war irgendwie so, dass ich mit mir selber nicht klargekommen bin und gedacht habe, eben praktisch alles verpfuscht zu haben.

I.: Wieso das?

B.: Also in meinem Leben ist alles verpfuscht, ich bin schwul, alles läuft nicht richtig.

I.: Wie hätte es denn laufen sollen nach deiner ursprünglichen Vorstellung?

B.: Meine Vorstellung war, eine normale Freundin zu haben. Ich hatte es auch immer mal wieder versucht mit Mädchen. Also ich dachte, irgendwas stimmt nicht, so kannst du nicht leben. Das geht nicht (847-916).

Deutlich präsentieren sich die Eltern hier als verlängerter Arm gesellschaftlicher Stigmatisierung. Hinzu kommt, dass der Sohn selbst die gesellschaftlichen Vorurteile derart stark verinnerlicht hat, sodass er nur noch in der Flucht, dem Suizid, einen Ausweg sieht.

Große Distanz zu den abweichenden eigenen Gefühlen gepaart mit elterlicher Ablehnung treibt auch in einem anderen Fall den Betreffenden zum Selbstmordversuch:

Peter W. (27 Jahre).: Also das war so wie ein Teufelskreis, aus dem ich eigentlich nie rausgekommen bin. Einerseits hatte ich die Sehnsucht, ganz anders zu leben, konnte das aber nicht packen. Mir kam das, was ich getan hab an Schwulsein, immer ziemlich schmierig und schmuddelig vor, weil damit wirklich kein Gefühl verbunden war. Oft war es so, dass ich das nur noch betrunken ausgehalten hab (402-415).

Den durch sein Lebensproblem aufgestauten Gesprächsbedarf versucht Peter W. zunächst durch eine Offenbarung bei den Eltern stillen zu können. Angesichts seines unvollendeten Selbstfindungsprozesses kommt die Eröffnung vor den Eltern einem Hilferuf gleich. Andere verständnisvolle Ansprechpartner scheinen weit und breit nicht in Sicht. Die Aussprache mit den Eltern verschärft jedoch nur das Problem. Der Vater erklärt, dass dies nicht seine Welt sei und er keine homosexuellen Freunde in der elterlichen Wohnung sehen wolle:

Peter W.: Das war für meine Eltern sehr einfach, zu sagen, leb’ wie du leben willst, aber nicht bei uns. Damit war die Ausgrenzung eigentlich perfekt (550-554).

P.: Ich denke, das Gespräch war zu früh, obwohl es schon zu spät war, weil ich mir zu dem Zeitpunkt noch immer nicht vorstellen konnte, anders zu leben. (...) Also ich kann von meinem Vater keine Tipps erwarten, wie ich schwul leben kann (597-616).

Ohne soziales Vorbild fällt es Peter W. schwer, den eigenen Lebensweg konsequent anzulegen. Die Eltern ihrerseits sind nicht in der Lage, ihren Sohn in seinem schwierigen Selbstfindungsprozess zu unterstützen. Die Situation erscheint schließlich ausweglos:

Peter W: Da ich auch finanziell ziemlich beschissen dastand, kam so das Gefühl, dass ich dieses Leben so nicht mehr weiterleben wollte. Da ich auch kein anderes Leben leben konnte (...), sah ich eigentlich keinen Ausweg mehr, außer dem, meinem Leben ein Ende zu setzen. Der Selbstmordversuch ist mir dann aber nicht gelungen (798-849).

Das elterliche Wissen um das Sosein des eigenen Sohnes führt hier nicht zwangsläufig zur gelingenden Ausbildung einer homosexuellen Identität. Obwohl die Eltern hier die eigentliche ‘Verantwortung’ zu tragen hätten, verweigern sie den Beistand. Die Situation ändert sich auch nach dem gescheiterten Suizidversuch nicht. Trotz des elterlichen Wissens um die Not des Sohnes findet keine Kommunikation über sein Privatleben statt.

Auch Bertram H. bleibt mit seinem Lebensproblem allein und zwar voller Scham. Selbst nach dem gescheiterten Suizidversuch fehlt in der Familie die Basis zur Kommunikation der homoerotischen Gefühle und Empfindungen des Sohnes.

Bertram H, 31: Danach, wenn ich meine Eltern besucht habe, habe ich mich richtig geschämt. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. (...) Wenn ich reingekommen bin, habe ich nur zum Fernseher hingeguckt. Ich mochte meinen Eltern nicht mehr in die Augen schauen. (...) Ich hatte gegenüber meinen Eltern Schuldgefühle. Das habe ich denen praktisch angetan (1218-1257).

Die geschilderten Familienverhältnisse verhindern hier, dass die Entwicklung zum Homosexuellsein gelingen könnte. Die Söhne selbst haben die antihomosexuellen Wertungen derart stark verinnerlicht, dass diese sie daran hindern, zu einem positiven Selbstwertgefühl zu finden und konsequent einen homosexuellen Lebensweg einzuschlagen. Sozial isoliert sehen sie selbst dann, wenn sie in einer Metropole wohnen, keine Chance, bei Freunden oder schwulen Selbsthilfegruppen Unterstützung zu finden. Die eigene Andersartigkeit bedroht hier die persönliche Integrität derart stark, dass nur noch die Flucht in die Krankheit einen Ausweg eröffnet. Geplagt von eigenen Vorbehalten gegenüber ihrem Sosein können sie den auf die Homosexualität bezogenen Negativurteilen nahezu nichts entgegensetzen. Auch der behandelnde Arzt agiert wie ein hilfloser Helfer, da ihm der Hintergrund der Alkoholsucht verborgen bleibt:

Peter W, 27: Also mit meinen Eltern zu reden, war mir damals eigentlich nicht möglich. Das Gleiche galt für meinen Arzt, denn wenn ich mit dem geredet hätte, hätte er auch mit meinen Eltern über die Angelegenheit gesprochen (1037-1042).

Die Reaktion des Sohnes: Rückzug

Völlig zerrüttete Familienverhältnisse erschweren die homosexuelle Identitätsfindung auf eine andere Art und Weise. Erneut tauchen Eltern - wenn sie überhaupt noch präsent sind - als verlängerter Arm sozialer Kontrolle auf, nicht aber als unterstützende Instanz. Norbert C., 40, in verschiedenen Heimen groß geworden und alkoholkrank, berichtet, dass das Schwierigste meine Mutter war. Das war das Problematische an meiner Homosexualität, dass sie das nicht akzeptiert hat, dass es so ist (785-790). Obwohl Norbert C. in einem Heim lebt, interveniert die Mutter massiv, als sie vom Heimleiter über die gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte ihres Sohnes in Kenntnis gesetzt wird. Dann ist meine Mutter sehr massiv geworden, ist auf den Heimleiter zugegangen und hat gesagt, er möchte das bitte unterbinden (860-864). Norbert C. bricht den Kontakt, nachdem ihn seine Mutter nach einer Aussprache auf offener Straße ohrfeigt, schließlich völlig ab:

Norbert C: In der Kneipe habe ich dann bemerkt, dass sie auch erhebliche Probleme mit dem Alkohol als Solches hat. Ja und dann sind wir rausgegangen und dann hab ich ihr gesagt, da ein junger Mann vor uns herlief, der gefällt mir und dann hat sie mir eine geschossen. Das war dann der auslösende Moment, wo ich zu meiner Mutter gesagt habe, wir gehen getrennte Wege und die sind wir dann auch wirklich gegangen (1361-1374).

Auch Günter F., 42, blickt auf eine schwierige Jugend zurück. Seine Eltern seien beides Alkoholiker gewesen. Es hat viele Prügel- und Saufszenen gegeben (1352). Nach dem Selbstmord der Mutter wächst Günther F. in verschiedenen Heimen auf. Er selber ist ebenfalls alkoholkrank und hat einen Suizidversuch hinter sich. Von der Herkunftsfamilie bleibt als potenzielle Unterstützerin nur eine Schwester. Günter F. erwartet zumindest von ihrer Seite ein bisschen Verständnis für sein Sosein. Seine Eröffnung ihr gegenüber ist jedoch mit hohem Risiko verbunden. Als uneheliches Kind könnte sie einerseits selbst um die Wirkung ausgrenzender Umweltreaktionen wissen, andererseits sich aber auch auf den moralischen Standpunkt der Amtskirche berufen, denn sie ist fest in ihrer Kirchengemeinde verankert (1049). Ihre Reaktion auf seine Eröffnung erlebt er als ganz, ganz schlimm (1100). Homosexualität sei in ihren Augen als Todsünde (1055) zu werten, folglich lebe er, Günter F., selber ein Leben in Sünde (1096).

Trotz der widrigen Lebensbedingungen hat sich bei den zuletzt beschriebenen Lebensbiografien zumindest ein Selbstwertgefühl insoweit ausbilden können, da den antihomosexuellen Zumutungen durch Abkehr ausgewichen wird. Die Kontakte zur Mutter bzw. der frömmelnden Schwester werden abgebrochen. Doch höchstwahrscheinlich sind tiefe, innere Wunden zurückgeblieben. Die Verletzungen, welche die beiden davongetragen haben, sind in späteren Therapien mühsam behandelt worden. Ohne familiäre Bindung weiterleben zu müssen, hinterlässt jedoch dauerhafte Narben.

Reaktion des Sohnes: Heirat

Das soziale Gefüge, das es hinsichtlich potenzieller Homosexuellenfeindlichkeit zu überprüfen gilt, gerät um vieles komplexer, wenn sich zur Herkunftsfamilie noch Ehefrau und eigene Kinder gesellen. Erneut zwingen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen zum übermäßigen Alkoholkonsum. Für Winfried D., 40, ist Alkohol das geeignete Mittel, seine heterosexuelle in eine homoerotische Realität zu transformieren:

Winfried D.: Am Anfang war es so, dass es mit zwei Gläschen lockerer abging. Es war die Situation, in der ich mit meiner Frau geschlafen habe. Ich hatte meine sadistischen Vorstellungen dabei, von Leder und Gummi, je nachdem, wie’s drauf ankam. Ich konnte mich dann eine gewisse Zeit drauf konzentrieren. Nur wenn halt der Konzentrationsfaden abriss, war nix mehr, war finito, lief nix mehr. Ich konnte mich nicht mehr sexuell mit ihr beschäftigen, wenn ich keinen Alkohol getrunken hatte. Mit Alkohol konnte ich es über’ne gewisse Zeit (272-289).

Der Alkoholkonsum geriet dann außer Kontrolle. In der anschließenden Therapie wird Winfried D. klar, dass es nicht anders geht, dass die Veranlagung da ist zu beiden Geschlechtern und dass ich’s nicht unterdrücken kann (220-224). Erneut verzögern hier die selbst verinnerlichten Vorbehalte gegen die eigenen homoerotischen Gefühle die Selbstfindung. Sie wirken zudem massiv auf die Gestaltung der sexuellen Interaktionen. Einmal abgesehen davon, dass bei der folgenden Szene auch das Präventionsverhalten auf Grund der emotionalen Distanz zur eigenen Homosexualität und des daraus resultierenden Zwangs zum Verheimlichen auf der Strecke bleibt und der Arzt den Hintergrund einer Hepatitis-Infektion nicht erfährt, erhöht der gesellschaftliche Druck, der auf den homosexuellen Begegnungen lastet, die Infektionsempfänglichkeit entscheidend:

Winfried D.: Gott sei dank ist es an dem Abend zu keinem Geschlechtsverkehr mit meiner Frau gekommen, denn sonst hätte ich sie voll infiziert. Das war nämlich Hepatitis B und die ist erheblich ansteckend. Dann hätte sie mich natürlich gefragt: ‘Wie kommst du denn daran?’ und ‘Wie kann sowas nur passieren?’ Wir hatten ja auch den gleichen Arzt. Dem konnte ich natürlich nicht sagen, dass ich einen Mann ohne Pariser in den Arsch gefickt hab (1845-1859).

Das Doppelleben zwischen Familie und schwuler Subkultur verursacht teilweise extreme innerfamiliäre Spannungen. Udo K., 49, berichtet, dass er auf Grund dieser Belastungen schon öfter in der psychiatrischen Abteilung eines Landeskrankenhauses behandelt werden musste:

Udo K.: Das war so eine Art Schizophrenie, so haben die Ärzte das dargestellt. Das waren einfach meine seelischen Spannungen: einmal schwul, einmal die Eheprobleme und immer diese Heimlichkeiten des eigenen Auslebens der Gefühle. Das ist mir über den Kopf gewachsen (1260-1269).

Udo K. selbst führt seine psychische Erkrankung auf sein unausgegorenes Coming-out des Schwulseins (1747) zurück. Die Betroffenen selbst erahnen, welchen gesundheitlichen Preis sie für eine unvollständig ausgebildete homosexuelle Identität bezahlen müssen. Die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen wirken derart übermächtig, dass sich die Betroffenen ihnen nicht entziehen können. Ausgrenzung kommt hier nicht mehr mit dem brutalen Knüppel des Strafrechts, sondern subtiler und selektiver daher. Sie hinterließ auch hier ihre krank machende Spur.

Themen für die zukünftige Schwulenpolitik

Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass alle schwulen Männer eine derart schwere Bürde zu tragen haben. Viele, wahrscheinlich sogar die meisten, haben die schwierige Lebensphase des Sich-Selbst-Vergewisserns und Akzeptierens unbeschadet überwunden und können ihren homosexuellen Lebensstil auch vor ihren Eltern unbekümmert demonstrieren. Mit der Präsentation der anderen, weniger erfolgreichen homosexuellen Lebenswirklichkeit wollte ich hingegen verdeutlichen, dass Werner Hinzpeters Kritik an der Schwulenbewegung von falschen Voraussetzungen ausgeht. Schwule Politik darf sich nicht nur an einer vermeintlichen Majorität schwuler Bedürfnisse orientieren. Jenseits quantitativer Mehrheiten haben diejenigen Männer unsere Solidarität und Anteilnahme verdient, die an der gesellschaftlichen Homosexuellenfeindlichkeit zerbrochen sind.

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktion auf homosexuelles Leben zeichnet das Buch zudem eine völlig verzerrte Realität. Indem es den von vielen schwulen Männern als besonders schwierig erlebten Familienalltag gänzlich ausblendet, negiert es einen großen Teil homosexueller Lebenswirklichkeit. Heute gelten zwar in bestimmten heterosexuellen Milieus offene Bekanntschaften zu Homosexuellen oder eine Teilhabe an homosexueller Kultur und Lebensform als gesellschaftlich schick und en vogue. Die Nagelprobe auf die eigene Toleranz stellt sich aber erst, wenn der eigene Sohn den Eltern erklärt, schwul zu sein. In diesen Situationen sind häufig starke Gefühle am Werk. Innerhalb Sekunden brechen für die Eltern Vorstellungen über die gesellschaftlich erwünschten und institutionell vorgezeichneten Lebensweg ihres Kindes wie ein Kartenhaus zusammen. Entweder verbirgt sich hinter ihrer eher sachlichen Erwiderung ein gehöriges Maß an Halbherzigkeit oder es kommt zu regelrecht kopflosen Reaktionen. Da wird geschimpft, geschrieen, geweint und manchmal auch brutal zugeschlagen.11

Nach einer umfangreichen Fragebogenauswertung resümiert Kurt Starke: "Als erfreulich wird das Schwulsein des Sohnes niemals bewertet. Im besten Falle ist es ein Sichabfinden mit der neuen Situation - des Sohnes und des lieben Frieden wegen."12 Mir ist jedenfalls kein Fall bekannt, bei dem die Eltern dem sich offenbarenden Sohn vor Begeisterung um den Hals fallen und eine Flasche Sekt öffnen - vergleichbar etwa bei der Bekanntgabe einer Vermählung.

Die homophoben Verhältnisse in den Herkunftsfamilien sind jedoch aus einem anderen Grund als brisant, ja eigentlich dramatisch zu bewerten. Von den Verunglimpfungen und Demütigungen im Elternhaus - das verdeutlichen die von uns ausgewerteten Biografien - führt der Weg nahezu ohne große Umwege zur seelischen Erkrankung und/oder HIV-Infektion mit abschließendem Aidstod.

Dieser funktionale Zusammenhang zwischen Ausgrenzung und Erkrankung gibt auch der Schwulenbewegung Themen und künftige Arbeitsschwerpunkte vor. Eine Gesundheitspolitik, die Fragen von Gesund- und Krankheit in einen übergeordneten politischen Zusammenhang stellt, ist dabei durchaus nicht neu. Die feministische Kritik der 70er-Jahre hatte immer auch die Lebensverhältnisse von Frauen kritisch in ihrem Blick. Die politischen Maßnahmen, die geeignet erscheinen, gesundheitsschädigende Eigenschaften sozialer Verhältnisse zu reduzieren, haben wir in unserem Abschlussbericht strukturelle Prävention genannt. Strukturelle Prävention sollte dabei nicht als Konkurrenz zur individuellen Prävention, sondern als ihre sinnvolle Ergänzung verstanden werden.

So abstrakt, wie diese theoretische Konzeptionierung auf dem ersten Blick daherkommt, ist sie in Wirklichkeit nicht. Wenn die Herkunftsfamilie auf die Bewältigungsstrategien hinsichtlich des antihomosexuellen Stigmas in wesentlicher Art und Weise Einfluss nimmt sowie den Grundstein für die Formen des zukünftigen Intimlebens legt, dann sollte die Elternarbeit zu einem der zentralen Schwerpunkte zukünftiger Schwulenpolitik zählen. Es gehört wohl zu den größten Errungenschaften der neuen Schwulenbewegung, die eigenen Eltern vermehrt als Bündnispartner gewonnen zu haben. Solche Ansätze sind nach Kräften weiter zu fördern und auszubauen.

Insofern können wir den schwulenpolitischen Defätismus eines Hinzpeters unbekümmert hinter uns lassen. Die Schwulenbewegung ist auf dem richtigen Weg. Ihr bisheriger Erfolg spricht für sich.

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1 Hinzpeter, Werner: Schöne schwule Welt - Der Schlussverkauf einer Bewegung, Berlin 1997, S. 80, 82. Zurück zu Fn. 1

2 Altman, Dennis: Aids and the New Puritanism, London 1986, S. 83-92. Zurück zu Fn. 2

3 Hinzpeter, Werner: a.a.O., S. 81. Zurück zu Fn. 3

4 Ders.: S. 87. Zurück zu Fn. 4

5 Quartalsberichte des AIDS-Zentrums im Robert Koch-Institut über aktuelle epidemiologische Daten, I/1996, Berlin. Zurück zu Fn. 5

6 Hutter, Jörg, Koch-Burghardt, Volker und Rüdiger Lautmann: Ausgrenzung macht krank. Homosexuellenfeindlichkeit und HIV-Infektionen, Wiesbaden 1997 (im Druck). Zurück zu Fn. 6

7 Hurrelmann, Klaus: Sozialisation und Gesundheit - Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren im Lebenslauf, Weinheim/München 1988, S. 17. Zurück zu Fn. 7

8 Koch, Volker: Zu einer sozialen Ätiologie von Aids - Der soziologische Beitrag zur Krankheitserklärung, Bremen 1989, S. 112-116. Zurück zu Fn. 8

9 Lautmann, Rüdiger: Die Eltern als Begleiter beim Homosexuellwerden, in Sexologie, 3. Jg. (2), 1995, S. 218-234. Zurück zu Fn. 9

10 Die an den Krieg erinnernden Begrifflichkeiten sind hier bewusst gewählt. Gerade dann, wenn die schwulen Söhne auf moralisch unantastbare Standpunkte der Eltern stoßen, bleibt die Ebene eines auf wechselseitigem Verständnisses basierenden Gedankenaustausches verbaut. Jede Seite beharrt auf ihrem Standpunkt. In einer solchen Situation kann nur der gewinnen, der die stärkeren Bataillone ins Feld führt. Zurück zu Fn. 10

11 Lautmann, Rüdiger: "Du bleibst mein Sohn!" Homosexuelle und ihre Mütter, in: Garbrecht, Annette (Hrsg.), Mütter und Söhne - die längste Liebe der Welt, Hamburg 1995, S. 175-187, sowie ders.: Die Eltern als Begleiter beim Homosexuellwerden, Sexologie,, Jg. 3, (2) 1995, S.222 ff.. Zurück zu Fn. 11

12 Starke, Kurt: Schwuler Osten - Homosexuelle Männer in der DDR, Berlin 1994, S. 154.
 
Zurück zu Fn. 12

Literatur                     Zurück zum Inhalt     Zurück zum Beginn

Altman, Dennis: Aids and the New Puritanism, London 1986.

Hinzpeter, Werner: Schöne schwule Welt - Der Schlussverkauf einer Bewegung, Berlin 1997.

Hurrelmann, Klaus: Sozialisation und Gesundheit - Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren im Lebenslauf, Weinheim/München 1988.

Hutter, Jörg, Koch-Burghardt, Volker und Rüdiger Lautmann: Ausgrenzung macht krank. Homosexuellenfeindlichkeit und HIV-Infektionen, Wiesbaden 1997 (im Druck).

Koch, Volker: Zu einer sozialen Ätiologie von Aids - Der soziologische Beitrag zur Krankheitserklärung, bremer soziologische texte, Bremen 1989.

Lautmann, Rüdiger: "Du bleibst mein Sohn!" Homosexuelle und ihre Mütter, in: Garbrecht, Annette (Hrsg.), Mütter und Söhne - die längste Liebe der Welt, Hamburg 1995.

Lautmann, Rüdiger: Die Eltern als Begleiter beim Homosexuellwerden, in Sexologie, 3. Jg. (2), 1995.

Quartalsberichte des AIDS-Zentrums im Robert Koch-Institut über aktuelle epidemiologische Daten, I/1996, Berlin.

Starke, Kurt: Schwuler Osten - Homosexuelle Männer in der DDR, Berlin 1994.

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