Schwule Konfliktunfähigkeit

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DreieckSchwule Konfliktunfähigkeit im Zeichen von Aids
 

Schwule Konfliktunfähigkeit im Zeichen von Aids, in: vorgänge 122, Leske & Budrich, Opladen 1993

Inhalt

Das bio-medizinische Krankheitsmodell


Das medizinisch-technizistische Sexualitätsverständnis


Anmerkungen


Politisierung von Aids

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Schwule Konfliktunfähigkeit im Zeichen von Aids
Jörg Hutter

"Die Geschichte des Verhältnisses der Schwulenbewegung zu Aids ist die Geschichte von Verdrängung und einer Kette von Versäumnissen".1 So kritisierte der Aids-Aktivist und Mitstreiter in der Schwulenbewegung, Andreas Salmen, im Februar 1992 selbst an den Folgen dieser Krankheit gestorben, die Situation in der Bundesrepublik Deutschland recht drastisch. Zugleich hatte er im Sommer 1989 mit der Gründung der ersten deutschen "ACT UP Gruppe" sowie dem Aufbau eines Stopp-Aids Projektes in Berlin hartnäckig, aber auch vergeblich versucht, das politische Bewusstsein der Schwulen für die Aids-Krise zu schärfen und ihren Kampfgeist zu wecken. Die Idee von ACT UP - die "Aids-Coalition to Unleash Power" stammt schließlich von ebenso engagierten Mitbegründern des "New York Gay Mens Health Crisis", eine der ersten schwulen Aids-Selbsthilfe-Organisationen in den USA. Sie begannen ihre Aktivitäten mit spektakulären Aktionen und Demonstrationen, um auf die Aids-Krise aufmerksam zu machen und das Schweigen über Aids zu brechen.

Trotz dieser Ansätze politischen Handelns ignoriert die bundesdeutsche Schwulenbewegung bis heute die Dimension der Aids-Epidemie im Hinblick auf die Schwulen. Es hapert an der Einsicht, Aids als ureigenstes Politikfeld für Schwule anzuerkennen und zu akzeptieren. Der ungeheuere Selbsttäuschungsprozess der Schwulenbewegung ist gleichermaßen ablesbar an der Geburt des Bundesverbandes Homosexualität (BVH) sowie an der Gründung der Deutschen Aids Hilfe (DAH). Nur mit Mühe ließ sich im November 1986 auf der Gründungsversammlung des schwulen Dachverbandes das Thema Aids, wenn schon nicht in der Satzung, so zumindest im Grundsatzprogramm verankern. Noch bis heute meiden die Funktionäre in den schwulen Emanzipationsgruppen sowie in ihrem Dachverband die Beschäftigung mit dem Thema. Der gängige Verweis auf die Zuständigkeit der Aids-Hilfe-Organisationen ist dabei sehr bequem. Anstatt innerhalb der schwulen Gemeinschaft eine offensive Auseinandersetzung mit der Krankheit anzustreben, verbannen die Gesunden das Thema lieber in die Aids-Gettos: die sterilen Arzt-Praxen, Kliniken, Ambulanzen und Aids-Hilfen, wo Infizierte und Erkrankte unter sich bleiben und wo sich ein Gesunder nicht blicken lassen muss.

Die vorhandene Versorgungsstruktur erleichtert freilich diese Ausgrenzungstendenzen. Denn die im September 1983 in Berlin aus der Taufe gehobene "Deutsche A.I.D.S. Hilfe" formulierte als Vereinszweck, die Unterstützung von anderen Personen und solchen, die im Verdacht stehen, an Aids erkrankt zu sein. Der Verband interessiere sich nicht für die sexuelle Orientierung seiner Mitglieder, genauso wenig wie Aids es tue.2 Mit dieser Standortbestimmung hatten sich die schwulen Gründer der Aids-Hilfe vom Gedanken einer schwulen Selbsthilfe meilenweit entfernt. Die Entwicklung zu einer ein medizinisches Problem verwaltenden Bürokratie war vorprogrammiert. Viel zu spät erkannten die Verantwortlichen, dass in erster Linie nicht alle oder andere Menschen, sondern vorrangig sie selber, in der Mehrzahl eben schwule Männer, es waren und noch sind, die die tödlichen Auswirkungen der Epidemie zu spüren bekommen. Selbstverständnisdebatten und Quotierungsüberlegungen3 sollten dann helfen, diese Schräglage auszugleichen. Viele Aktivisten von heute haben sich zumindest eingestanden, die eigene Bedürfnislage durch das Schielen auf andere Betroffenengruppen geschickt beiseite geschoben zu haben. Trotzdem ist die Kluft zwischen Aids-Bürokraten und Schwulenbewegung auf der einen und den schwulen Infizierten und Erkrankten auf der anderen Seite nicht zu übersehen.

Die epidemiologischen Daten belegen zudem mit brutaler Gewissheit, dass die Krankheit in den USA und in Westeuropa vor allem Schwule betrifft und auch in Zukunft betreffen wird. Die jährlichen Neuerkrankungsziffern pendeln seit Jahren konstant um 65%.4 Der vielbeschworene 'Ausbruch' des HIV in die heterosexuelle 'Allgemeinbevölkerung' ist bislang ausgeblieben.5 Aids-Politik müsste demnach immer auch Schwulen-Politik darstellen, umgekehrt Schwulenpolitik immer auch Aids-Politik bedeuten. Salmen formulierte es selbstbewusst und glasklar: "Schwule Emanzipationsbemühungen können sich nicht mehr an Aids vorbeidrücken, sie sind nur noch in einem Gang mitten durch Aids denkbar."6 Ein Blick in die USA ist an dieser Stelle durchaus angezeigt: Nicht nur, um einen umfassenderen Überblick zu erhalten über die verschiedenen Reaktionen auf die Aids-Epidemie, sondern auch, um mit einem Staat vergleichen zu können, in dem sich in den letzten Jahrzehnten ungleich stärkere und sozial sichtbarere Formen homosexueller Vergesellschaftung etablierten.

Der Soziologe Dennis Altman7 verdeutlicht, dass schwule Organisationen in den USA regional sehr unterschiedlich auf Aids reagierten. Sie vermochten es dort am effektivsten, wo ihre Mitglieder auf eine besonders entwickelte schwule Infrastruktur zurückgreifen konnten. Die öffentliche Wahrnehmung von Aids als 'Schwulenseuche' war nur in solchen Landesteilen problematisch, in denen sich die Schwulenbewegung nicht entfalten konnte. So in Florida mit der landesweit höchsten Konzentration von Aids-Fällen und dem größten politischen Desinteresse auf allen Ebenen. Doch auch in den Metropolen sind deutliche Differenzen sichtbar. Obwohl die "New York Gay Mens Health Crisis" als durch und durch schwule Organisation zu den bestbekanntesten ihrer Art zählt, erweist sich die Gruppe als äußerst schwach und desorganisiert. In New York existieren weder dauerhafte Unterstützungsprogramme, noch ein Hospiz, Essen auf Rädern oder eine Infrastruktur, die es Erkrankten ermöglicht, ambulant zu Hause, anstatt stationär im Krankenhaus versorgt zu werden. Hingegen konnte die Schwulenbewegung in San Francisco mit der "AIDS Foundation" und dem "Shanti Projekt" die umfassendste Versorgungsstruktur für die Krankenbetreuung und -versorgung aufbauen.

An dieser Stelle korrigiert Altman unser Amerikabild. Private Spenden und privates Engagement reichen nicht, um soziale Leistungen wirkungsvoll abzusichern. Denn im Unterschied zu New York finanziert in San Francisco der Staat zum größten Teil die Hilfsprogramme. Hier war es den schwulen Aktivisten gelungen, dem Staat Gelder für eine unpopuläre Minderheit abzutrotzen. Die kalifornischen Schwulen hatten erkannt, dass Macht und Geld unauflösbar miteinander verwoben sind. Deshalb forderten sie vom Staat nicht nur Legitimität, sondern gleichfalls ökonomische Ressourcen ein.

Diesem kalifornischen Modell, dem Aufbau eines institutionell stark verankerten schwulen Versorgungs- und Beratungsnetz für Menschen mit HIV und Aids, nähern sich in Europa nur die Verhältnisse in den Niederlanden und Dänemark, beides Länder, in denen schon vor dem Auftreten von Aids eine starke Schwulenbewegung existent war. Doch trotz dieser in Ansätzen positiven Bilanz verweist Altman auf schwer wiegende Defizite.8 Im Vergleich etwa zur Frauenbewegung der 70er-Jahre ist es den schwulen Aktivisten durchweg nicht gelungen, Fragen von Gesund- und Krankheit in einen übergeordneten politischen Zusammenhang zu stellen. Feministische Kritik hatte dagegen immer auch die Lebensverhältnisse von Frauen kritisch in ihrem Blick.

Warum aber mangelt es trotz dieser Hinweise und anderer Appelle an der nötigen Konfliktfähigkeit im Aids-Bereich? Warum sind die Schwulen unfähig, sich im Rahmen einer politisch folgenreichen Initiative offensiv mit Aids auseinander zu setzen? Der Verweis auf Abwehr und Verdrängung auf Seiten der Schwulen greift sicherlich zu kurz. Ich möchte daher aufzeigen, dass die gängigen Konzeptualisierungen von Krankheit und Sexualität dafür sorgen, dass sich die Aids-Krise im sozialen Sinne nicht mehr politisieren lässt.

Das bio-medizinische Krankheitsmodell

In der Regel wird Krankheit bzw. Gesundheit nicht als etwas Politisches gedacht. Zu den Determinanten von Krankheit zählen ausschließlich biologische, rein äußerliche Faktoren. Dementsprechend betrachten wir Krankheit als ein rein individuelles Ereignis, als etwas, was uns rein zufällig trifft, sozusagen als Malheur, das hätte vermieden werden können, oder in schweren Fällen als endgültige Niederlage. Dies gilt selbst für Infektionskrankheiten und in besonderem Maße auch für Aids. Die Medizin begreift Aids als Funktionsstörung des Immunsystems und reduziert selbst den sexuellen Aspekt dieser Störung auf die Frage, wie das HI-Virus des einen in die Blutbahn des anderen gelangt.

Ein solch technizistisches Modell repliziert die gesamte Aids-Aufklärung, nämlich dann, wenn sich die Informationen über Aids auf virologisches und klinisches Faktenwissen beschränkt. Dies trifft für Broschüren der Aids-Hilfen genauso zu wie für Unterrichtsmaterialien der Kultusbehörden oder den Werbespots der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Stets überwiegen die Ausführungen zur Funktions- und Wirkungsweise des HI-Virus bzw. des menschlichen Abwehrsystems, aus dem dann die theoretisch möglichen und praktisch unmöglichen Übertragungswege abgeleitet werden. Diese Mitteilungen ergänzen meist Aussagen über die Therapierbarkeit klinischer Aids-Manifestationen, in seltenen Fällen auch Angaben über die Verteilung der Infektionen nach spezifischen Risikofaktoren. Handlungsempfehlungen erschöpfen sich dann in dem Hinweis auf Kondome und andere Möglichkeiten des Safersex.9

Das Bestreben, nur auf bio-medizinisches Faktenwissen abzuheben, leitet sich her aus einem aufgeklärten Rationalitätsideal, das der Mythen- und Metaphernbildung bei Aids entgegenwirken soll.10 Die Schwulen haben diese Strategie begrüßt, richtet sie sich doch gegen nicht beweisbare Legenden und totalitäre Visionen einiger Hygienefanatiker genauso wie gegen naturalistische Ideologien, die vorbehaltlos biologische Gesetzmäßigkeiten zum Maßstab bürgerlicher Moralvorstellungen deklarieren.11

Das Rationalitätsideal der gängigen Aids-Aufklärung leugnet und ignoriert jedoch das Bedürfnis des Menschen, existenzielle Bedrohungen in eine alltägliche Lebenswelt einzuordnen und ihnen einen Sinn zu geben. Stets sind auch ethische Orientierungen gefragt, die den gefühlsmäßigen Umgang mit der Krankheit zu steuern helfen. Der Kranke ist daher bestrebt, körperliche Funktionsstörungen in einen situationsübergreifenden und für ihn lebensweltlich bedeutsamen Sinnzusammenhang zu stellen. Denn der Quotient aus T4 und T8 Helferzellen (die für das menschliche Immunsystem als bedeutsam erachteten Lymphozyten) hält für die alltägliche Handlungsorientierung eines an Aids Erkranken keine relevante Information bereit.

Das Handhaben einer lebensbedrohlichen Krankheit erfordert auch von dem Gesunden normatives Wissen, um ihn in die Lage zu versetzen, Leiden sprachlich, emotional, vorstellungshaft und in Handlungen am kranken Mitmenschen zu erfahren und zu erleben. Naturalistisch-objektives Faktenwissen kommt dann, wenn es in sozialen Situationen Anwendung findet, ohne normative Aspekte des Sinns von Krankheit nicht aus. Die Krankheitsbezeichnung besagt bereits, dass ein HIV-Positiver das HI-Virus erworben (Acquired für 'A' bei Aids bzw. Erworbenes Immunmangelsyndrom) und nicht bekommen hat. Somit schließt schon die Krankheitsbezeichnung nicht aus, dass eine Infektion ein irgendwie geartetes Dafürkönnen voraussetzt. Diejenigen, die sich dann die Infektion selbst zuzuschreiben haben, werden zu Tätern, verlieren per definitionem den Status des Opfers.

Der normative Charakter der Aids-Informationen lässt sich durch die vordergründige Bezugnahme auf bio-medizinische Fakten nur geschickter verdecken. Die oft unausgesprochenen Erwartungen an eine 'verantwortliche' Sexualität haben jedoch insbesondere homosexuelle Männer unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck gesetzt. Homosexuelle haben diesem Druck dann häufig durch den Gang zum HIV-Antikörpertest nachgegeben. Die Testung kommt somit in vielen Fällen einem Schuldanerkenntnis für eigenes Fehlverhalten in der Vergangenheit gleich. HIV-Infizierte und an Aids Erkrankte sind um vieles mehr genötigt, sich einer peinlichen Selbstthematisierung zu unterziehen.

Die Bestrebungen, den Aids-Komplex von normativen Deutungen freizuhalten, sind folglich gescheitert. Diskreditierende Wertungen sind jedoch weniger Ergebnis der Mythen- und Metaphernbildung an sich, sondern vielmehr Folge der defensiven Strategie schwuler Aids-Aktivisten, einer Strategie, nach der bei Aids jeder Bezug zu normativen Orientierungen vermieden werden soll. Die Schwulen haben damit das Feld für die Sinngebung dieser Epidemie kampflos den konservativen gesellschaftlichen Kräften - nämlich der Medizin und den Kirchen - überlassen.

Alternative Erklärungen sind daher von Nöten, die sich nicht scheuen, bio-medizinisches Faktenwissen in einen für Homosexuelle lebensgeschichtlich bedeutsamen Sinnzusammenhang einzubetten. Bis heute weigern sich jedoch viele Schwule, ihren eigenen Lebensstil kritisch unter die Lupe zu nehmen. Sie weisen die Versuche, Formen homosexueller Begegnung und Bedürfnisbefriedigung kritisch zu hinterfragen, als Angriff auf sexuelle Besitztümer und sexuelle Freiheit strikt zurück und verkennen dabei, dass ein multifaktorielles Krankheitsmodell, das Formen der Vergesellschaftung mit dem HIV-Infektionsrisiko in Beziehung setzt, nicht schon an sich schwulenfeindlich sein muss. Denn die These, dass zwischen den sozialen Umweltbedingungen, die für homosexuelle Männer in unserer Kultur maßgeblich sind, und ihrem HIV-Infektionsrisiko ein funktionaler Zusammenhang besteht, verweist auf generalisierbare und somit konfliktfähige Problemlagen. Dann könnten individuelle Schuldzuweisungen auch als Versuche gesellschaftlicher Kräfte entlarvt werden, sich gezielt der eigenen Verantwortung für die Aids-Krise zu entziehen. Aids könnte letztlich zu einer der politischsten aller Krankheiten avancieren.

Das medizinisch-technizistische Sexualitätsverständnis

Mit der bio-medizinischen Konzeptualisierung von Aids korrespondiert ein Sexualitätsverständnis, dass gleichfalls in biologisch-medizinischen Kategorien gefangen bleibt. Wir ordnen Sexualität meist der so genannten Intimsphäre zu, dem privatesten aller Bereiche, der mit Politik nicht verwoben zu sein scheint.

Viele sehen das Wesen menschlicher Sexualität nur in der Erregung und Befriedigung von Lust. Auf diesen Zweck ist dann die sexuelle Aktivität eines im Grunde nur mit sich selbst beschäftigten Menschen ausgerichtet. Sexualverhalten bleibt damit eine einsame, aus der Sphäre des Sozialen herausgenommene Erfahrung. Wenn Sexualität jedoch einzig das Resultat individueller Absichten und Einstellungen sein soll, dann kann der Einzelne auch für das 'Beherrschen' bzw. 'Nichtbeherrschen' seiner sexuellen Trieb- und Empfindungsstruktur zur Verantwortung gezogen werden.

Das skizzierte Sexualitätsverständnis geht auf die von der Sexualpsychiatrie im vorigen Jahrhundert entwickelte Sichtweise zurück. Es findet sich unverändert wieder in den Aufklärungsmaterialen zu Aids. Die dort formulierten Hinweise und Appelle richten sich folglich nur an den Einzelnen als Individuum. Das in der Aids-Aufklärung geläufigste Motto 'Aids bekommt man nicht, Aids holt man sich' illustriert die problematische Auffassung. Die entsolidarisierende Wirkung dieser Botschaft ist offenkundig, denn sie unterstellt konsequenterweise den Neu-Infizierten, denen die Infektionswege bekannt waren, ihre Infektion selbst verschuldet zu haben. Sie lastet schließlich den Infizierten, die um ihre Infektion wissen, eine besondere Bürde auf. Denn sie sind jetzt in besonderer Form für Maßnahmen des Infektionsschutzes 'verantwortlich'.

Das im Aids-Diskurs vorherrschende Sexualitätsverständnis hat die mit sexuellem Erleben und Handeln verbundenen kommunikativen und sinnlichen Bezüge fast vollständig aus dem Auge verloren. Die Tatsache, dass sich in einer sexuellen Situation zwei oder mehrere Menschen begegnen und ihre Handlungen aufeinander beziehen, bleibt vollständig ausgeblendet. Das gemeinschaftliche Erleben von Intimität verlangt jedoch von den Partnern, die Motive des Anderen zu erfassen und mit den eigenen Wünschen sowie den situativen Möglichkeiten abzustimmen. Somit legen weniger die einmal gefassten Absichten einer handelnden Person das sexuelle Geschehen fest, sondern ihre Fähigkeit, diese mit einem oder mehreren Partnern auch realisieren zu können.

Sexuelle Handlungskompetenzen sind dem Menschen nicht einfach gegeben, sie müssen erworben werden. Menschen reifen zu sexuellen Wesen heran, sie erlernen Beziehungs- und Intimitätsmuster im laufe ihrer lebensgeschichtlichen Entwicklung. Im menschlichen Miteinander erkennen und bewerten sie, was Sexualität ist und wie sie gelebt werden kann. Hierzu gehört, die Bedeutung affektiver Zustände zu entschlüsseln, das eigene Verlangen geschickt "in Szene zu setzten"12, die Motive des anderen Partners zu antizipieren und mit den eigenen Wünschen abzustimmen sowie die Abfolge der Handlungsschritte, die auf das ausgehandelte Begehrensziel hinführen, zu organisieren. Die Komplexizität sexueller Begegnungen erhöht sich noch dadurch, dass das gemeinsame Handeln stets an den situativen Möglichkeiten ausgerichtet werden muss.13

Das Fundament dieser menschlichen Handlungspotenziale wird in der Sozialisation gelegt. Die in der Familie vorgefundenen Beziehungsformen bilden für das Kind "die wesentliche Basis für die Interiorisierung von grundlegenden Mustern zwischenmenschlichen Umgangs"14. Das heißt, dass Menschen die Programme für erotisch-sexuelle Handlungen früh verfestigen, denn sie setzen die einmal praktizierten Beziehungs- und Intimitätsmuster selbst dann immer wieder neu ein, wenn der Misserfolg vorprogrammiert ist. Handlungsweise lassen sich demnach im späteren Leben nicht mehr beliebig revidieren, zumal widrige Umweltbedingungen Defizite weiter konservieren können. Somit sind die Formen, in denen sich erotisches Begehren ausdrückt, das Ergebnis gesellschaftlicher Sozialisationsprozesse, sie verkörpern letztlich die geronnene Struktur sozialer und persönlicher Erfahrung.

Die Frage nach den Bedingungen homosexueller Erfahrung verweist somit immer auch auf soziale Strukturen. Sie ist verknüpft mit Lebensstilen, in die gesellschaftlicher Einfluss genauso hineinreicht wie der Gestaltungswillen des einzelnen Individuums. Wenn sich beispielsweise ein Jugendlicher nach langen Selbstzweifeln eingesteht, schwul zu sein, dann ist diese Erfahrung begleitet von der schockierenden Gewissheit, die sozial vorbestimmte Position eines sorgenden Familienvaters nie einnehmen zu können. Sexuelle Handlungen weisen Menschen daher Rollen zu, die über die erlebte erotisch-sexuelle Situation weit hinausreichen.

Homosexuelle Erfahrungen werden - dies soll das angeführte Beispiel auch verdeutlichen - zudem stets von dem Bewusstsein begleitet, dass es sich um eine gesellschaftlich gesehen minderwertige Sexualität handelt. Die homosexuell lebenden Männer sind daher gezwungen, negative Auswirkungen dieser zum Teil immer noch sehr extensiven gesellschaftlichen Ächtung zu bewältigen. Somit unterscheiden sich homosexuelle Lebenserfahrungen von denen der heterosexuellen Bevölkerung wesentlich. Die gesellschaftlichen Bedingungen, welche das Ausleben homosexueller Bedürfnisse mitregulieren, könnten daher mit den Bedingungen des erhöhten HIV-Infektionsrisikos für Homosexuelle gewissermaßen identisch sein. Ließe sich ein solcher Zusammenhang bestätigen15, dann wäre leicht ersichtlich, dass Prävention auch struktureller Art sein muss.

Strukturelle Prävention wendet sich dann nicht nur an den Einzelnen. Sie könnte vielmehr die gesundheitsschädigenden Eigenschaften der sozialen Verhältnisse demaskieren und sich deshalb um die Auflösung der Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlich vermittelten Bild sexueller und sozialer Abweichung und der von homosexuellen Männern konkret erfahrenen Lebenswelt bemühen. Denn die gesellschaftlich vermittelte Deutung von Homosexualität hält so viele stigmatisierende Elemente bereit, dass die an Aids erkrankten Menschen häufig nicht nur auf Grund ihres Krankseins, sondern schon auf Grund ihres Andersseins ausgegrenzt und diskriminiert werden. Das Nichtverstehen homosexueller Lebenszusammenhänge beruht nämlich im Wesentlichen auf ihrer sozialen Unsichtbarkeit. Gesundheitsfördernde sozialpolitische Maßnahmen müssten daher zur Überwindung dieser Unsichtbarkeit beitragen.

Jedoch nur die schwulen Männer selbst wären in der Lage, Aids in ein homosexuelles Licht zu rücken. So, wie es ihnen in den 70er-Jahren gelungen ist, homophobe Angreifer durch Übernahme des Feindbegriffes 'schwul' zu entwaffnen, so müssten sie heute die diskreditierende Wirkung der Metapher von der 'Schwulenseuche' durch eine offensive Annahme dieser Zuschreibung umwerten und wirksam entkräften. Nur so könnten sie langfristig gesehen die verzerrte öffentliche Wahrnehmung von Homosexualität wirksam korrigieren.

Die Zeichen hierfür stehen allerdings schlecht. Denn mit der Verbannung des Sexuellen und des Kranken in einen je individuell erfahrbaren Intimbereich fallen Problemlagen zwangsläufig aus dem System politischer Verantwortung heraus. Sie lassen sich im sozialen Sinne nicht mehr konfliktfähig machen. Krankheit und gesellschaftliche Ausgrenzung begreifen dann die betroffenen Männer nur als einen individuellen Defekt, dem allein durch Therapie und Betreuung beizukommen ist.

Solange sogar die schwulen Aids-Aktivisten die Aids-Epidemie auf ein rein medizinisches Problem reduzieren, solange kann es nicht gelingen, auf übergeordnete Problemlagen der Aids-Krise zu verweisen und mit Hilfe dieses konfliktfähigen Potenziales eine soziale Bewegung anzustoßen.

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1 Salmen, Andreas, Endlich aus der Opferrolle rauskommen. Diskussion: Schwulenbewegung und Aids, in: Siegessäule (Schwulenzeitschrift) 1 / 89, S. 22. Zurück zu Fn. 1

2 "Deutsche A.1.D.S. Hilfe gegründet", Mitteilung in TORSO (Magazin für homosexuelle Männer) 11/83,S.9. Zurück zu Fn. 2

3 Auf der Mitgliederversammlung der DAH am 20. / 21. Mai 1989 in Mainz diskutierten die Delegierten, ob in jeder Aids-Hilfe-Gruppe auch Vertreter der Hauptbetroffenengruppen (Schwule und Junkies) und HIV-Infizierten eingebunden sein müssten. Zurück zu Fn. 3

4 Bericht des AIDS-Zentrums des Bundesgesundheitsamtes über aktuelle epidemiologische Daten, 
12 / 1992, S. 5. Der Diagnosezeitraum erstreckt sich jeweils vom 1. Januar bis zum 31. Dezember der Jahre 1991 (Homosexuellenanteil 64,9 %) und 1992 (Homosexuellenanteil 65,8 %). Zurück zu Fn. 4

5 Die Zwischenergebnisse einer derzeit von Volker Koch und mir an der Universität Bremen durchgeführten empirischen Erhebung über die Epidemiologie bei Aids lassen eine auch zukünftig hohe Beteiligung der Homosexuellen an der Aids-Inszidenz erwarten, vgl.: Hutter, Jörg/Koch, Volker, Typen des Stigma-Managements und sexuellen Handlungsstils bei homosexuellen Männern. Auswirkungen auf die Prävention, in: Aids - eine Forschungsbilanz, Lange, Cornelia (Hg.), Berlin 1993. Zurück zu Fn. 5

6 Salmen, Andreas, a.a.O., S. 22. Zurück zu Fn. 6

7 Altman, Dennis, Aids and the New Puritanism, London 19e S. 83-92, 111, 1Z7-133. 
Zurück zu Fn. 7

8 ebd., S. 91 Zurück zu Fn. 8

9 Lautmann, Rüdiger/Hutter, Jörg/Koch, Volker, Aids und Ethik. Zur Normalisierung der Immunschwächekrankheit. Ergebnisse einer empirischen Studie, (unveröffentlichtes Manuskript), Bremen im September 1990. Zurück zu Fn. 9

10 Sontag, Susan, Aids und seine Metaphern, München 1989; Dunde, Siegfried Rudolf, Aids und Moral. Über ein psychosoziales Problem, Frankfurt/M. 1989. Zurück zu Fn. 10

11 Eiff, August Wilhelm von / Gründel, Johannes, Von Aids herausgefordert. Medizinisch ethische Orientierungen, Freiburg 1997, S. 41. Zurück zu Fn. 11

12 Simon, William/Gagnon, John H., A Sexual Script Approach, in: Geer, James H./0'Donohue William T (Hg.): Theories of Human Sexuality, New York /London 1987, S. 379. Zurück zu Fn. 12

13 Mit diesen Ausführungen nehme ich Bezug auf das in der Sexualsoziologie etablierte Konzept des sexuellen Szenarios (sexual script). Siehe hierzu Gagnon, John H., The Explizit and Implizit Use of the Scripting Perspective in Sex Research, in: Annual Review of Sex Research, 1. Band, Lake Mills 1990, S. 1-43. Zurück zu Fn. 13

14 Kreppner, Kurt, Sozialisation in der Familie, in: Hurrelmann, Klausl / Ulrich, Dieter (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim /Basel 1991, S. 323. Zurück zu Fn. 14

15 Die Zwischenergebnisse der erwähnten Bremer Untersuchung (Fn. 5) legen diesen Zusammenhang nahe. Es zeichnet sich ab, dass die Art und Weise, wie ein Individuum die Information über seine "Andersartigkeit" steuert, seine Techniken des Kennenlernens festlegt und die Intensität erotisch-sexueller Begegnungen reguliert. Je intensiver Formen der Informationskontrolle die erotisch-sexuelle Situation steuern, desto höher fällt das HIV-Infektionsrisiko aus. 
Zurück zu Fn. 15

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